Abkehr des Westens von Afghanistan

Vor einem Jahr begannen die USA ihre Bombenangriffe auf die Taliban

  • Jan Heller, Kabul
  • Lesedauer: 6 Min.
Dreizehn Monate nach dem 11. September 2001 und ein Jahr nach dem Bomben-Start des »Antiterrorkrieges« versinkt Afghanistan bereits wieder hinter dem geistigen Horizont des Westens.
Für die über 20 Millionen Afghanen, die fast ein Vierteljahrhundert Krieg und soziale Verelendung durchmachen mussten, ist das eine neue Katastrophe. Schon zweimal sahen sie sich von dem verlassen, was gemeinhin die »internationale Gemeinschaft« genannt wird - nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 und nach der Machtübernahme der Mujaheddin 1992. Selbst in der systemtragenden Presse häufen sich derzeit besorgte Schlagzeilen wie: »Afghanistans zögernder Wiederaufbau« (New York Times), »Ein halb getaner Job« (Boston Globe), und »Wir haben Afghanistan schon wieder verlassen« (Guardian).
Inzwischen hat selbst der letzte Afghane zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich die Versprechungen des Westes - in diesem Falle die 5,4-Wiederaufbau-Milliarden der Tokioter Geberkonferenz - sich nicht in wirklichem Geldfluss niederschlagen muss. Zwar sind die Vorwürfe, es würde nichts ankommen, übertrieben, aber die UNO-Afghanistan-Mission (UNAMA) kann in ihrem jüngsten »Faktenpapier« bestenfalls schönfärben: »890 Millionen Dollar oder 49,4 Prozent der Zusagen für 2002 sind an die Projekte umsetzenden Agenturen und afghanische Treuhandfonds geflossen«. Aber nur ein gutes Viertel ging in langfristig angelegte Wiederaufbau-Vorhaben im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in die Minenräumung.

Siegreiche Kriegspartei etablierte Machtmonopol
Doch es wäre verfehlt zu behaupten, Afghanistan und die umliegende Region hätten sich seit dem 11. September und dem Beginn des US-Bombenkriegs am 7. Oktober 2001 nicht verändert. Das Regime der Taliban ist beseitigt; Al Qaida hat Afghanistan als sichere Zuflucht verloren. Aber daraus hat die internationale Gemeinschaft, die mit dem Bonner Afghanistan-Abkommen immerhin die Verantwortung für den Friedensprozess übernommen hat, nichts gemacht. Die von den meisten Afghanen herbei gesehnte, wenigstens partielle Demokratisierung ist versandet, bevor sie richtig begonnen hat. Die - dank der USA-Bomben - siegreiche Kriegspartei, die Nordallianz, hat weitgehend ein Machtmonopol etabliert. Politische Kräfte, die nach Bonn mit einer Öffnung in Richtung Pluralismus rechnen konnten, verharren entweder im Untergrund oder, wenn sie doch erste Schritte an die Öffentlichkeit wagten, werden bereits wieder vom Geheimdienst überwacht.
Nicht nur Kommentatoren in der pakistanischen Presse fragen sich, ob besonders die USA genug für einen Erfolg der Karzai-Administration tun und kommen zu dem verwunderten Schluss, dass es »schwer zu verstehen« sei, »dass die Amerikaner weder willens sind, die Internationale Schutztruppe ISAF über Kabul hinaus operieren zu lassen noch ihre eigenen Truppen für friedenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung stellen wollen«. Das ist wirklich verwunderlich, wenn man nicht zu Verschwörungstheorien greifen will. Etwa, dass es Washington möglicherweise genügt, mit den Flughäfen Kandahar und Bagram (bei Kabul) Luftstützpunkte in Afghanistan gewonnen zu haben, die auch als rückwärtige Basen für einen Irak-Angriff dienen könnten. Und dass sie Überflug-, Lande- und Stützpunktrechte selbst in den früheren sowjetischen Republiken Mittelasiens erworben haben. Das hätte mal jemand Putin vor 18 Monaten prophezeien sollen.
Kein Wunder, dass Russland - trotz aller Lippenbekenntnisse zum Anti-Terror-Kampf - in Afghanistan wieder den »Spoiler« (Spielverderber) spielt und ausgerechnet Hardline-Fundamentalisten wie Ex-Präsident Rabbani und Verteidigungsminister Fahim finanziert. Auch Iran und China sind wenig begeistert über eine lang andauernde USA-Truppenpräsenz an ihren Grenzen.
Unterhalb der geopolitischen Ebene bewegt sich wenig. »Kämpfe zwischen Stämmen und Jihad-Gruppen brennen bis heute. Weder Frieden noch Demokratie herrschen. Stabilität und nationale Einheit werden von Tag zu Tag schwächer. Der Aufbau einer nationalen Armee, einer Zivilgesellschaft und einer parlamentarischen Demokratie sowie Projekte des Wiederaufbaus verzögern sich.« So lautet kurz und bündig das Resümee eines Stammesrates, der vier Ostprovinzen vertritt und sich jetzt besorgt mit einem Brief an die UNO wandte.
Und jetzt verschläft die internationale Gemeinschaft gerade die anstehende Verfassungsdiskussion, die wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus den gesellschaftlichen und politischen Rahmen für die Entwicklung Afghanistans festschreiben wird. Schon sind die zwei Monate seit der Loya Jirga Ende Juni vergangen, in denen eigentlich eine Unabhängige Verfassungskommission berufen werden sollte.
UNAMA-Chef Lakhdar Brahimi und seine Politik des »leichten Fußabdrucks«, die den Afghanen eine Überschwemmung mit ausländischen Spezialisten und damit eine Fremdbestimmung ersparen soll, überlässt widerstandslos das Feld den Warlords und alten Fundamentalisten, die nach der Bonner Konferenz beinahe schon weg vom Fenster waren. In seiner letzten Unterrichtung des UN-Sicherheitsrats am 19. September erwähnte er weder den Stand bei der Vorbereitung der Verfassung noch der für 2004 geplanten Wahlen. Die Warlords werden sich ihre auf den »Werten des Jihad« gegen die Sowjets beruhende fundamentalistische Verfassung schon zusammen stellen, wenn ihnen niemand in den Arm fällt. Bewusste Politik oder Irrtum? Weder noch: Die internationale Gemeinschaft hat in Afghanistan bisher manches richtig gemacht - nur immer Monate zu spät. Hätte die Bonner Konferenz sofort nach dem 11. September und nicht erst Ende November - also noch vor dem Fall Kabuls an die Nordallianz - begonnen, hätte eine ausgewogene Machtübergabe stattfinden können. Allerdings hätte man dazu kompromissbereite Taliban gebraucht. Die gab es aber, man hätte nur auf ihre Angebote, das sinkende Schiff zu verlassen, eingehen müssen.
Hätte die UNO nicht erst auf den letzten Drücker die massive Einschüchterungskampagne der Warlords bei den Wahlen zur Loya Jirga angeprangert, wäre die Jirga anders zusammen gesetzt gewesen und die neue Karzai-Administration genösse mehr Legitimität. Nun ist es zwar lobenswert, dass Deutschland ab Dezember die ISAF-Führung übernehmen will, aber eine Mandatserweiterung über Kabul wollen auch Struck und seine Ministerkollegen nicht. Die wäre aber schon im Frühjahr nötig gewesen, um die afghanischen Wähler vor den Warlords zu schützen.

Richter Shinwari will weiter steinigen lassen
Schließlich muss der Westen jetzt endlich verstehen, was für viele Afghanen schon eine Binsenwahrheit ist: islamischer Fundamentalismus - mit seinem terroristischen Rand - ist nicht nur mit den Taliban gleich zu setzen. Auch unter den derzeitigen Verbündeten der USA stehen Kräfte, die gleichen Geistes Kind sind: Der von Saudi-Arabien unterstützte Mujaheddin-Führer Sayyaf, dem »Ausländer« die Politik in Kabul dominieren; der Oberste Richter Shinwari, der weiter steinigen und amputieren lassen will; der erst kürzlich vom Hauptverbündeten zum Erzfeind mutierte Hekmatyar, der zum Jihad gegen die US-Amerikaner und alle ihre Alliierten aufruft. Und auch jene politisch Verantwortlichen, die gerade eine neue Religionspolizei unter dem Namen Ershad-e Islami (Islamische Erziehung) aufstellen, die den Frauen unter anderem das Burka-Tragen predigen soll. Eine schleichende Re-Fundamentalisierung macht sich also schon innerhalb der Kabuler Administration bemerkbar - für islamistische Ideologen und die Kriegsfürsten ist der gedankliche Abschied des Westens von Afghanistan ein Geschenk des Himmels.
»Wir finden ihn - tot oder lebendig - , aber wir suchen lieber nach Saddam, weil der so viel leichter zu finden ist.« So drückt der US-amerikanische satirische Kolumnist Art Buchwald die jüngste Schwerpunkt-Verschiebung im »Antiterrorkrieg« der Bush-Regierung aus - weg von der wenig erfolgreichen Jagd auf Al Qaida und ihren Vormann Osama bin Laden hin zum ersten Präventivkrieg des 21. Jahrhunderts.
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