Die haben uns mit MPis empfangen.« So endet im August 1961 in Sassnitz für eine Gruppe der Jungen Gemeinde und junger Baptisten ein Ausflug auf der Ostsee. Weil aus dem Schippern der SEEBAD BINZ entlang der Insel Bornholm plötzlich bloß (Kurswechsel nur wegen des Wetters?) eine »Reise rund um Rügen« werden soll, protestieren die jungen Leute an Bord übermütig: »Wir wollen nach Bornholm!« Daraus entsteht Unbegreifliches: Grenzwacht-Eskorte, Verhaftung an Land, eine Anklage, ein Schauprozess schließt sich an, auf der Täterbank sitzen nicht mehr nur Jugendliche, sondern angeblich religiös verbrämte, willenlose Werkzeuge der NATO. Eine Lawine bricht los: Einschüchterung, erpresste Bevölkerungs-Empörung, Gefängnis und Zuchthaus, Freikauf, Zerstörung von Lebensplänen, »Wut auf diesen Staat DDR« (Dietrich Gerloff, einer der Verurteilten).
»Meuterei vor Rügen« hieß der 1997 gesendete Dokumentarfilm im Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, der diesen justizwillkürlichen Fall erstmalig in all seinen Verzweigungen aufrollte. Vom Film nun zum Buch. Hellmuth Henneberg, ORB-Journalist, von 1992 bis 1998 Redakteur der politischen Erinnerungssendung »Am Tag, als ...« mit Gisela Oechelhaeuser und Walther Stützle, und, ebenfalls seit 1992, einer der verlässlichsten Arbeitspartner für Günter Gaus und dessen Interview-Reihe »Zur Person«, hat sein TV-Feature zwischen zwei Buchdeckel geklemmt. Falsch. Er begann eigentlich von vorn, grub noch tiefer. Sprach noch einmal mit Seeleuten und Grenzsoldaten, mit Passagieren und Staatsbeamten, befragte Opfer wie Täter, Angeklagte wie Ankläger, Beteiligte und scheinbar Unbeteiligte, las Stasi- und Gerichts-Akten sowie alte Zeitungen, erkundete Stimmungs- und Wetterlagen jener Tage im August - er führte Lebensläufe und den so genannten Geschichtsverlauf zu einem spannenden, erschreckenden Kontext zusammen.
Der Wert dieser Arbeit liegt maßgeblich darin, dass sich jeder Berichtende, jeder sich Erinnernde durch Henneberg dazu verführt sieht, fest gelagertes Wissen und gesicherte Urteile neuer Prüfung auszusetzen, sich gleichsam noch einmal in ein schwebendes Verfahren zu begeben, das da Leben heißt und für manchen dieser bitteren Ereignisse damals weit mehr war: Schmerz, Sturz, Schicksal. Identität erweist sich nicht als starre, unwandelbare Gegebenheit, sondern sie ist in den Vergangenheits-Aufwühlungen und Gegenwarts-Momentaufnahmen, die hier zusammengetragen wurden, ein Werdensprozess, der Herkünfte verlässt, zu ihnen zurückkehrt, etwas, das sich bei dem einen verliert, bei anderen erneuert, eine unaufhörliche Folge von Aufbruch und Wiederkehr. Erschütternd bleibt das Schicksal der beiden Hauptangeklagten Dietrich Gerloff und Jürgen Wiechert, die zu je acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurden - drei Jahre mehr, als die Staatsanwaltschaft forderte. »Wofür eigentlich die vielen Opfer?« fragt DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert, der damals zufällig Zeuge der Festnahmen war, als die BINZ in Sassnitz anlegte. »Wie ein Foto habe ich das Bild immer wieder gesehen, das war auch 1989 so, als die Mauer wieder aufging.« Immer wieder sind es solche Bilder, die im Menschen ein anderes, von der Zeit nicht zu besänftigendes Regime führen, und keine Geschichtsschreibung hat Macht dagegen; Schlussstrich-Empfehlungen prallen ab, wo Recht ein Recht war, das beugte.
Hellmuth Henneberg hat ein überzeugend akribisches Buch geschrieben, ohne dass die Genauigkeit des Faktischen, die Bohrkraft der Nachforschung und die Sachlichkeit der Niederschrift sich dämpfend auf die Lektürelust auswirken. Wahrscheinlich erwächst das Fesselnde dieses Reports auch aus der dramaturgisch raffinierten Verschränkung von Tatsachenbeschreibung und Hennebergs eigenen Reflexionen über die Schwierigkeit, sich nach über 40 Jahren lückenlos, stichhaltig der verwitterten Tatsachen zu versichern.
Er ist ein Zögerer, ein Umkreiser, ein Bedenker mit großer Geduld, der sich all seinen Gesprächspartnern mit Freundlichkeit nähert, offen, vertrauensbestimmt. Ein Arbeitstagebuch Hennebergs, in die Chronik des Falls eingebettet, erzählt von dieser geradezu unerbittlichen Vorsicht gegenüber jeder scheinbar letzten Gewissheit, diese Notizen ordnen die Vorgänge ein ins Situationsgeflecht des Kalten Krieges unmittelbar nach dem Mauerbau.
Andererseits ist gerade dieses Nachdenken, dieses immer wieder neue Überprüfen gegensätzlicher Berichte und differenzierter Erinnerungen von so auffälliger journalistischer Bescheidenheit getragen, dass man beim Lesen nicht von Selbstbespiegelung des Autors belästigt wird. Die Geschichte selbst gerät nie in den Hintergrund oder zum Vehikel gar einer literarischen Anmaßung. Dieser Band wird zu einem besonderen Sachbuch gerade dadurch, dass sein Produzent, sozusagen unterschwellig, einen über die Konkreta hinausweisenden Bericht gibt über die merkwürdigen Verzahnungen von Geschehen und Gedächtnis, von individueller Handlungsmotivation und Fremdbestimmung des Menschen durch politische Interessenkonflikte.
Auch lässt Henneberg Dinge souverän für sich stehen, ohne dabei Denunzierungen oder Bekräftigungen anzubieten; er vertraut auf die Widerspruchskraft einer Geschichte, die im Leser eine eigene Meinung geradezu anstachelt. »Aus meiner Sicht als FDJ-Funktionär kann ich nicht sagen, dass wir eine Front gegen junge Christen aufgebaut haben«, sagt Egon Krenz, 1961 FDJ-Chef des Bezirkes Rostock, im letzten Interview des Buches.
Hellmuth Henneberg: »Meuterei vor Rügen - was geschah auf der SEEBAD BINZ?« Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Hinstorff Verlag Rostock, geb., 182 S., zahlr. Abb., 17,90 Euro.
Am 7. November stellt der Autor sein Buch im »Schmied zu Jüterbog« und am 12. November in der Hutten-Buchhandlung Frankfurt (Oder) vor.
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