Gedenkstättenbesuche gehören zum Schulunterricht wie die öffentlichen Rituale an Gedenktagen. Jeder Lehrer hat dabei schon die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche angesichts »verordneter Betroffenheit« mit der berechtigten Frage »Was geht mich das an?«, vielleicht mit Ratlosigkeit noch öfters mit »trotziger Gegenwehr« reagieren. Beim genaueren Hinsehen wird aber kenntlich, dass es sich bei solchen Haltungen sehr oft um weit mehr als nur Verweigerung »erwarteten Trauerns« handelt, sondern dass sich dahinter unbeantwortete Fragen verbergen, die nach »Geschichtsverständnis, Namenlosigkeit, Verantwortung, Gegenwartsbedeutung« (Helmut Ruppel).
Der Theologe und Religionspädagoge Helmut Ruppel macht das in einem Einführungskapitel an dem Gedicht einer Schülerin deutlich. »Warum soll ich trauern?« fragt die 18-Jährige, und sie schließt daran gleich die zweite Frage: »Was geht mich das an?... Ich bin nicht dabei gewesen/Meine Zukunft liegt doch nicht in der Vergangenheit.« Solche Fragen müssen ernst genommen werden; sagen die Herausgeber und Autoren des Buches, sie sind eine »hartnäckige Befragung unseres Unterrichtes.« Einer verordneten Geschichtsperspektive der Opfer-Identifikation setzen sie schülerorientierte Geschichtsvermittlung und - anschauung entgegen. Mit praktischen Beispielen von Unterrichtsentwürfen für Gedenkstättenbesuche wollen sie Schülern (und damit der dritten Generation nach dem Holocaust) und natürlich vor allem Lehrern Hilfe anbieten. Das Buch enthält eine Fülle von wichtigem Hintergrundwissen, bekanntem und weniger bekanntem Informationsmaterial und pädagogische Anleitungen. Es sucht nach Antworten auf die »hartnäckige Befragung« der Lehrer durch die Jugendlichen.
Die Lektüre des Buches dient zur Einübung humanen Verhaltens. Zunächst für evangelischen Religionsunterricht erstellt, ist es - ganz im Sinne der Herausgeber - auch für den Geschichtsunterricht, zumindest als wichtige Ergänzung vorliegenden Unterrichtsmaterials, geeignet. In die Texte eingefügte Informationen werden durch ein umfangreiches Verzeichnis weiterführender Literatur (»Bücherbrett«) ergänzt. So ist das Buch auch ein Nachschlagewerk.
Wolfgang Wippermann räumt durch die historisch genaue Darstellung der Lager-Geschichte mit Vorurteilen und Fehlinformationen auf und geht dann besonders auf das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und das »Jugendschutzlager« Uckermark, das »Arbeitserziehungslager« Wuhlheide und das (Muster- )Konzentrationslager Sachsenhausen ein, auf dessen ehemaligem Gelände jugendliche Rechtsextremisten 1992 einen Brandanschlag verübten und dessen Präsentation noch immer im Aufbau ist.
Anna Burmann entwirft eine entwicklungspsychologische Studie über Kinder und Todeserfahrungen mit besonderem Blick auf »das unsägliche Antlitz des Todes« seit Auschwitz. Zu den weiteren Vorüberlegungen pädagogischer Arbeit gehört ebenso die Frage nach dem Umgang mit Bildern des Holocaust als unverzichtbaren Teil eines heilenden Prozesses. Bilder wecken Gefühle der Anteilnahme. Ingrid Schmidt macht das an Zeichnungen von Lager-Häftlingen und in einer Betrachtung der großen Plastik am Schwedtsee von Will Lammert »Die Tragende von Ravensbrück« deutlich: »Aufstehen, Tragen und Davongehen.« Wie sie so möchte auch Cornelia Schirmer in ihrem Text zum Denkmal in der Berliner Rosenstraße (1943 protestierten hier nicht-jüdische Frauen erfolgreich gegen die Deportation ihrer jüdischen Ehemänner) die Schülerinnen über Emotionen und Informationen erreichen. Lehrwege führen zu Berliner Gedenkarten, deren Geschichte es wert ist, erzählt und erforscht zu werden, u.a. in die ehemalige Blindenwerkstatt von Otto Waid, in die Große Hamburger Straße und ins bayrische Viertel: Selbstverständlich gibt es informative Rundgänge durch die Gedenkstätten Ravensbrück (Schmidt) und Sachsenhausen (Nosek, Schnepp). Krystyna Arias Porras stellt ein einwöchiges Projekt der Ossietzky-Oberschule, Pankow, vor, das im Haus der Wannsee-Konferenz und der Gedenkstätte Sachsenhausen erarbeitet wurde.
Über die Fülle von Informationen und Anregungen hinaus sind diese Beiträge ganz praktisch mit Adressen und Öffnungszeiten der Gedenkorte versehen. Ganz leicht machen es die Herausgeber und Verfasser (vor allem Ingrid Schmidt) den Nutzern des Buches nicht, gerade durch die Fülle der Fakten und Assoziationen. Lehrer, die anhand des Buches Gedenkstättenbesuche mit Schülern planen, müssen selbst lernen, lesen, sichten und eigene Formen der Umsetzung finden. Zu Recht macht Helmut Ruppel darauf aufmerksam, dass die Pädagogik der menschlichen Würde ein komplizierter zivilisatorischer Prozess ist. Heute sind die Veröffentlichungen zu Nationalsozialismus und Holocaust unüberschaubar geworden. Dagegen bietet Unterrichtsmaterial (und ein entsprechender Unterricht) zumeist ein ziemlich mageres Gerüst der immer gleichen bereits bekannten Fakten. Dieses Buch ist Orientierungshilfe auch für den Umgang mit Gedenktagen wie dem an die Pogromnacht 1938. Es hinterfragt leer gewordene Begriffe wie »Bewältigung« oder »Betroffenheit« und ersetzt sie durch aktives Erinnern.
Warum soll ich trauern? Gedenkstättenbesuche vorbereiten und begleiten. Herausgegeben von Helmut Ruppel und Ingrid Schmidt. Wichern-Verlag, Berlin, in Koproduktion mit dem Ernst-Klett Schulbuchverlag, Leipzig, 2002. 223 Seiten, 9 Abbildungen, 15 Euro.
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