Medea hinter der Maske

Die Bildhauerin Christine Dewerny über einen glücklichen Tag, ein Privileg und das Sprechen zum Stein

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 10 Min.
In Berlin wurde die Theaterwerkstatt des Berliner Ensembles Christine Dewernys zweites Zuhause: Bertolt Brecht hatte 1949 ihren Vater, Requisitenmeister, an die junge Bühne geholt, und dort durfte sie ihrem Vater über die Schulter blicken. Kascheurlehre an der Deutschen Staatsoper in Berlin. 1965-1968 Studium an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. 1968-1986 Theaterplastikerin an der Komischen Oper in Berlin. Seit 1986 freiberuflich. Lehrtätigkeit an der Volkshochschule, Leitung von Steinsymposien. Zwei Monate im Jahr arbeitet sie im Sandsteinbruch Reinhardtsdorf in der Sächsischen Schweiz. Arbeiten im öffentlichen Raum, in Galerien und privaten Sammlungen in Berlin, Dresden, Hannover, Güstrow, Kleinsassen, Kevelear, Wustrow, Koblenz, Aachen.
ND: Stein ist - rein naturwissenschaftlich gesehen - totes Material. Sie aber hauchen ihm Leben ein? Oder besteht sein Zauber gerade darin, dass er doch von sich aus lebt?
Dewerny: Er ist nicht tot. Er ist voller versteinerter Einschlüsse - Muscheln, Wasserlilienstängel, Knospen.

Die vorgefundenen Formen des Steins, reizen sie oder behindern sie bei der Arbeit?
Die Einschlüsse sind eher hinderlich. Aber ich bin dem Stein dankbar, wenn er mir schon etwas anbietet. Ich erkenne ihn bereits, so, wie er gebrochen daliegt im Steinbruch, bevor er auf die Halde gekarrt wird. Ich sage ihm dann: Ich muss dich so nehmen.

Sie sprechen mit dem Stein?
Ja, natürlich. Er lebt ja.

Und welche Temperatur hat Stein?
Er ist zumindest kein kaltes Material. Er passt sich der Umgebungstemperatur an, wenngleich mit Verzögerung.

Sie arbeiten stets mit Sandstein. Spielt für Sie seine Farbe eine Rolle?
Ich arbeite seit 17 Jahren im Steinbruch Reinhardtsdorf. Der dort gebrochene Sandstein ist ein spezieller Bildhauersandstein. Er hat die richtige Konsistenz, und die Farbe und die Farbübergänge, einfach alles ist ideal für den Bildhauer. Im Steinbruch Wehlen, in den ich seit einigen Jahren manchmal ausweiche, ist der Stein wesentlich härter. Aber dort hat mich die Bänderung gereizt.

Gibt es ein spezielles bildhauerisches Denken?
Ja, durchaus. Wenn ich zum Beispiel Musik höre, entstehen andere Bilder in meinem Kopf, zwar auch bildhafte, aber eben andere. Ich erfahre auch immer wieder, dass die Betrachter meiner Skulpturen andere Vorstellungen haben als ich sie hatte. Zum Beispiel, als jemand sagte, er fände es besser, die Skulptur ohne Sockel aufzustellen. Wenn sie einfach nur auf dem Boden steht, füllt sie den Raum anders aus. Das Resultat gefiel mir. Oder bei meinen »Masken«-Steinen kommt es vor, dass der Betrachter bzw. Käufer ihnen ein Geschlecht zuordnet: Diese Maske ist gar kein »Der«, sie ist eine »Die«, heißt es da. Jeder nimmt sie auf seine Weise an.

Wie kamen Sie zu dem Thema Masken? Haben, vielleicht nur unbewusst, Ihre Erfahrungen während der Theaterzeit Sie darauf gebracht? Oder ist es aus dem Impuls geboren, etwas verstecken zu wollen - Maskerade, symbolische Handlung?
Ganz im Gegenteil (lacht). Ich habe im Laufe der Zeit bemerkt, die Steinmasken sind eigenständige Persönlichkeiten, mit eigenem Ausdruck. Wenn ich so zurückdenke, dann ist durchaus festzustellen, dass die »Masken«-Steine ihre Vorbilder in denen haben, mit denen ich am Theater umging, hier bekam ich eine Vorstellung davon, was Masken sein können und was man aus Masken und mit Masken machen kann. Beeinflusst haben mich auch afrikanische und taiwanesische Masken. Die ja auch für sich sprechen. Jede spricht für sich, auch formal. Das Thema trage ich also schon lange in mir.

Was ist für Sie Bewegung?
Der Stein hat eine majestätische Ruhe. Er ist nicht bewegt. Aber er kann etwas bewegen. Auch ich, wenn ich an ihm arbeite, bin zwar bewegt, aber ich muss die Ruhe bewahren und muss genau wissen, was ich will.

Werner Stötzer hat einmal gesagt, ein sensibel behandelter Stein müsse am Ende sein wie ein Gedicht. Würden Sie das auch so ausdrücken?
Ja, wie ein Gedicht. Man sollte in einer Skulptur lesen können, nicht nur an dem, was ich geschaffen habe, sondern auch in den Spuren ihrer Herkunft. Ich lasse daher zum Beispiel in fast allen Arbeiten die Bohrspuren stehen. Bruchkanten ziehe ich ganz bewusst mit ein.

Ihre Arbeiten aus den letzten Jahren zeigen eine Reduziertheit, weg vom Figürlichen, die gegen den Trend zu gehen scheint. Jetzt wird die lange verpönte mehr realistische Darstellungsweise, d.h. die menschliche Figur als universellen Bedeutungsträger einzusetzen, als zumindest gleichberechtigt neben anderen Stilen und -ismen anerkannt. Bei Ihren Arbeiten jedoch habe ich das Gefühl, dass gerade die abstrakteren stärkere Ausdruckskraft haben. Ihre Wirkung berührt Existenzielles.
Einem Trend habe ich mich nie untergeordnet, mich von keiner Mode irritieren lassen, wie so manch anderer Künstler, die man nach der Wende kaum wiedererkannt hat. In mir ist ganz von selbst etwas abgelaufen, das dann zur Abstraktion führte. Ich habe ja figürlich begonnen, habe die überlebensgroßen Akte geschaffen, habe sehr, sehr viele Porträts gemacht, also das Kopf-Thema lange behandelt. Natürlich habe ich mich umgesehen, bin aber meinen eigenen Weg weitergegangen.

Bildhauerei ist immer Arbeit mit dem Raum. Muss man da nicht von vornherein ein Einverständiger sein?
Wenn ich Arbeiten für den öffentlichen Raum mache, füge ich mich ein. Ich versuche aber Einfluss auf die Gesamtkonzeption zu nehmen, fühle mich verantwortlich dafür, wo und wie die Skulptur wirkt.

Sie haben ein Lebensalter erreicht, das von vielen als Stadium der Reife angesehen wird. Was heißt für Sie Reife?
Auf jeden Fall die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Je älter man wird, umso größer wird der Horizont, der Erfahrungsschatz. So erreicht man erst dann bestimmte Ausdrucksweisen oder Formen.

Sie meinen, dass sich Ihre Arbeiten mehr und mehr einer gewissen Archaik genähert haben, weg von direkter Abbildung?
Ja, das kann man so sagen. Ich glaube, das trifft auf die Sehnsucht der Menschen nach festem Halt in den heutigen Verwüstungen, den Archaisches zu vermitteln scheint.

In Ihrer Ausstellung überkam mich ein geradezu körperliches Gefühl der Anwesenheit literarischer Figuren von Christa Wolf. Können Sie das erklären? Haben Sie eine Affinität zu ihrem Werk?
Christa Wolf begleitete mich natürlich - wie ja so viele Menschen in der DDR -, sie war mir sehr nah. Der große »Kassandra«-Kopf ist in der Tat nach ihrem Buch entstanden. Ebenso die »Medea«.
Von der »Kassandra« hatte ich Christa Wolf ein Foto geschickt, um ihr zu zeigen, was mir als Bildhauerin dazu eingefallen ist. Ich bekam Antwort, wir haben uns getroffen. Als dann in Berlin, im Forum Amalienpark, eine Ausstellung zu »Medea« vorbereitet wurde, arbeitete ich gerade im Steinbruch: Ich hacke an meiner »Medea«-Maske, schreibe wieder Christa Wolf und sie antwortet, ich möge diese Arbeit ganz schnell nach Berlin bringen, sie gehöre doch in die Ausstellung. Die Maske ist angekauft worden und steht noch immer im Amalienpark, dort, wo Christa Wolf wohnt.

Könnten Sie sich vorstellen, auch mit anderem Material zu arbeiten, mit Marmor beispielsweise?
Zwar habe ich darüber nachgedacht, bin vor einigen Jahren nach Carrara gefahren. Aber ganz praktische Dinge haben mich dann davon abgehalten. Marmor verlangt eine ganz andere Herangehensweise: Man braucht völlig andere Eisen und - was ich für sehr wichtig halte - besondere Kenntnis über den Stein. Das Handwerkliche muss man sich - und das ist mühsam - erst aneignen. Manch Künstler unterschätzt das, glaube ich.

Werkzeug genug, sage ich als Laie, steht ja in Ihrem Atelier in der Pankower Breiten Straße und zu Hause bereit.
Zur Zeit sind es rund 400 Maschineneisen, 500 Handeisen - die auch immer wieder vom Schmied geschärft werden wollen - und zwei Kompressoren.
Aber fest steht: Ich bleibe bei meinem Sandstein. Ich bin eh noch nicht weise. Zu jeder Arbeit, die man ernsthaft und wahrhaftig macht, gehört auch eine Bescheidenheit. Das hat nichts mit Einseitigkeit zu tun, im Gegenteil, sondern meint Beschränkung und Konzentration.

Was ist für Sie Zeit?
Etwas sehr Wertvolles. Ich mache mir viel Gedanken darüber, wie viel Zeit, Lebenszeit, bleibt mir noch. Je älter ich werde, umso größer wird der Überblick, den ich habe, den ich bekomme. Wie viel Kraft bleibt mir, denn Kraft ist bei der Steinbildhauerei eine Grundvoraussetzung. Man muss sich die Zeit genau einteilen. Ich bin glücklich über einen Tag, an dem ich von früh bis abends nur am Stein arbeite.

Als freie Künstlerin bestimmen Sie Ihren Arbeitstag selbst. Es ist gewiss nicht leicht, sich den Tag selbst einzuteilen, aber Lohnabhängige sehen in der Selbstständigkeit, der Freiheit vom Zwang, sich Fremdbestimmtem unterzuordnen, auch in der Entscheidungsfreiheit, an welchem Gegenstand Sie arbeiten wollen, ein Privileg. Sehen Sie das auch so?
Angestellte oder Arbeiter, deren Arbeitstag geregelt ist, haben es bestimmt manchmal einfacher. Ihr Arbeitstag ist klar strukturiert, sie haben Feierabend, haben das Wochenende frei - das gibt es bei mir nicht. Ich unterliege einem Zwang zu arbeiten, ich bemerke oftmals, dass ich nicht mehr loslassen kann, und das wirkt sich manchmal gesundheitlich aus. Man muss hart kalkulieren mit seiner Zeit und es kommen - wenn ich zum Beispiel im Steinbruch arbeiten will - geradezu logistische Probleme dazu: Das Auto ist bis obenhin voller Werkzeuge, ich habe Termine zu koordinieren, beispielsweise muss ich beim Schmied rechtzeitig das Werkzeug schärfen lassen, usw. Ich habe für so etwas wie einen Einkaufsbummel einfach keine Zeit. Aber das kann, will, brauche ich nicht.

Unsere Zukunft sei die Freizeitgesellschaft, wird behauptet. Immer mehr Menschen haben keine Arbeit mehr oder bekommen von vornherein keine. Sie werden von der Arbeitsgesellschaft ausgegrenzt, abgeschrieben, sich selbst überlassen. Glauben Sie, es wäre eine Lösung, wenn sich diejenigen, die nicht als Produzenten oder Dienstleister in die ökonomische Prozesse der so genannten freien Marktwirtschaft eingebunden sind, sich ein anderes Feld der Kreativität suchen, sich so zu sagen als Hobbykünstler betätigen? Betrachten Sie die Kunst als Chance für diese Menschen, tätig zu werden?
Für eine Alternative, um aus einer gewissen Depression herauszukommen, wenn jemand arbeitslos geworden ist - vorausgesetzt, die Begabung liegt vor -, halte ich das für wichtig. Seit 23 Jahren unterrichte ich eine Gruppe bildhauerisch interessierter Menschen. Die Zusammensetzung hat sich kaum verändert. Zwischen mir und meinen Schülern findet ein ernsthaftes Zwiegespräch statt, voller Leidenschaft und Kreativität. Das funktioniert nur durch meinen großen persönlichen Einsatz. Insofern haben wir uns auch ein Stück Geborgenheit bewahrt.

Den Menschen sind zunehmend, so belegen auch Umfragen, wieder elementare Werte wichtig, Solidarität, Geborgenheit, wie sie zum Beispiel eine intakte Familie bietet. Kunst kann der seelischen Verwahrlosung entgegenwirken, die durch das Wegbrechen stabiler Grundbeziehungen aus Familien- und ähnlichen Verbänden, aus festen, gar lebenslänglichen Arbeitsverhältnissen oder aus Religionszugehörigkeit entsteht. Welche Macht trauen Sie ihr zu?
Die Beschäftigung mit Kunst hilft, Sinn im Leben zu finden. Sie gibt Mut, sie arbeitet der Einsamkeit entgegen, sie mildert die Angst vor der Zurückgeworfenheit des Einzelnen auf sich selbst. Aber welche Chance hat Kunst denn? Die staatliche Politik wird da ihrer Verantwortung nicht gerecht. Schauen Sie sich einmal an, was den Menschen überhaupt angeboten wird, was in den Medien passiert, diese Verflachung! Kunst kommt überhaupt nicht mehr vor. Das fängt schon an den Schulen an.

Ist Bildhauerei als Arbeit am Stein nicht eigentlich eine Utopie: In ihr herrschen Gesetze der Logik, sie ist konsequent, das Befolgen oder Nichtbefolgen der Gesetze, die der Stein vorgibt, wird belohnt oder bestraft, also hat man eine verlässliche Richtschnur des Handelns. Eine Eindeutigkeit herrscht in ihr, die sich anderswo kaum herstellt. Man kann voraussehen und bestimmen, wie man zu seinem Ziel kommt.
Als Künstler habe ich die Absicht, eine Botschaft zu übermitteln, möchte etwas mitteilen. Da sind die Mittel nicht das Ausschlaggebende. Andererseits: Als ich die Maske der Medea schuf, habe ich ganz grob gearbeitet, mit ganz groben Hieben, als wäre der Stein mit einem Beil bearbeitet worden. Eine Brutalität, eine Männlichkeit drückt sie aus, und Medea versteckt sich hinter der Maske. Sie muss sich die brutale Maske aufsetzen, um sich in der brutalen Welt behaupten zu können.

Bis zum 18. Januar 2003 sind Arbeiten der Künstlerin in der Berliner Galerie Hintersdorf im Kunsthof, Oranienburger Straße 27, Di-Fr 13-19, Sa 12-18Uhr, in einer gemeinsamen Ausstellung mit Malerei und Holzschnitt der Tochter Luise Dewerny ausgestellt.
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