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  • Politik
  • „Esther und Judith“ von Jean-Rene Lassalle im Fliegenden Theater

Subversiver Liebesgesang zweier Frauen

  • Lesedauer: 2 Min.

Die Begegnung der beiden ist zufällig, die erste Berührung zögernde Ablehnung. Am Anfang des Spiels tasten sie sich, jede für sich noch, entlang eines Grates - der Fall ins Nichts der Einsamkeit ist immer gegenwärtig. Esther benennt ihre Sehnsüchte und Träume unumwunden und kompromißlos: „Hier fließt das Wasser kraftlos. Laßt mich laufen und schreien!“ Judith offenbart, frei von Tabus, Erfahrungen mit Männern, in denen sie die Geliebte nicht fand. Das Erleben der Anderen dann, das Suchen, Geben und Nehmen der Wärme, Zärtlichkeit und Liebe wird in solcher Offenheit und Unmittelbarkeit vorgetragen, daß es mich in der Premiere tief berührte. Körper, Stimme, Sprechrhythmus, Maß der Bewegungen der Darstellerinnen (Wiebke Wiedeck, Marianne Knobloch) werden zum Ausdruck höchsten Lebensanspruchs, wiewohl nichts eindimensional auf sexuelle Äußerlichkeit reduziert wird. Vorgeführt als filmisches Gleichnis wird das Erleben der Annäherung der beiden Liebenden: Die Harmonie und Gegensätzlichkeit verschiedener Materialien und Gegenstände erfährt im Zusammentreffen spannungsvolle Steigerung (Film: Marion Thomas). Schon das entspannte Nachfühlen, Nachsinnen und Träumen trägt das Erlebnis der Andersartigkeit der Anderen in sich. Wenn noch Esther das Lied der Judith in ihrer Spieluhr wiederaufnimmt, bleibt die Erkenntnis, daß sie sie ja auch um ihrer selbst willen liebt.

Und so ist das Gleichmaß eines versuchten gemeinsamen Lebens im zweiten Teil von leidenschaftlichen Ausbrüchen begleitet, die den Keim der Zerstörung der gewonnenen Nähe in sich bergen. Eine Liebesgeschichte, wie jede andere? Immerhin zwei Frauen..., dürfen die zum Beispiel Kinder groß ziehen, wie es ihr Wunsch ist?

Der Text von Jean-Rene 1 Lassalle, der mit dem Aurwerfen solcher Fragen ethisches Gewicht bekommt, gibt den beiden Frauen expressive Gestaltung der Figuren vor, was sie unter der Regie von Jean Marie Boivin in deutlich umrissenen Situationen ausleben. Immer wieder ergeben sich auch durch die Lichtführung und Farbigkeit der Kostüme

Bilder von der unaufwendigen Klarheit und harmonischen Tiefe chinesischer Tuschzeichnungen, doppeln sich die einer verhaltenen Choreografie folgenden Bewegungen als Schattenspiel am weißen Bühnenhintergrund, verharren die beiden Frauen als skulpturar-

tiges Gegensatzpaar. Esther, lange im roten, abweisenden Lackmantel, trägt zum Schluß als Zeichen ihrer wiedergewonnenen Unschuld weiß, Judith im wärmenden Leinenkleid von Anfang an sachlich blau. So wohnen die Zuschaue-

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