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  • Reportage - Bagdad-Reise

Von Neuglobsow nach Madinat-es-Salam

Der deutsche Dichter und Pazifist Armin T. Wegner zog von Neuglobsow am Stechlinsee, wo er von 1920 bis 1933 lebte, viele Male in die Welt - auch nach Bagdad.

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Stechlin krümmt sich in diesen Apriltagen unter dem Nordwind. Vor kaum 14 Tagen erst hat er seinen Eismantel abgestreift, und nun jagen Schneeböen durch die Gärten von Neuglobsow. Die Fontane-Linde vor der Gaststube »Fontane-Haus« zittert und von den begehrten Touristen fehlt in dem sommers so launigen Ausflugsort noch jede Spur.
Nicht ganz so kalt war es an jenem Spätherbsttag 1920, an dem Armin T. Wegner mit seiner eben in Rheinsberg Angetrauten, der Dichterin Lola Landau, nach dreistündigem Hochzeits-Fußmarsch in Neuglobsow einzog. Lola fröstelte, als sie den unbeheizten Treppenflur im Haus Am Tanger 1 hinaufstiegen - allerdings nicht zu vergleichen mit der barbarischen Kälte, die ihnen 13 Jahre später entgegenschlagen sollte.
Das Domizil Am Tanger, das die Wegners »Haus der sieben Wälder« nannten, hat in den letzten Jahrzehnten manches über sich ergehen lassen müssen. Doch nun reckt es sich frisch geweißt über die schmale Straße mit den alten Glashütten-Häusern. In einem der Fenster zeigt ein behördliches »Baustellenschild« an, dass hier »Frank Braunert von der Berliner Fischerinsel 10 Umbau und Nutzungsänderung« ausführen lässt, um künftig Pensionsgäste zu beherbergen. Eine Gedenktafel ist bisher nicht in Sicht, klärt mich Peter Gralla auf, während wir im kalten Regen den Glashüttenweg zur Ortsmitte hinuntergehen.

Konfrontation mit dem Kaiser-Degen Litzmann
Gralla hat sich nach der Wende am Stechlin niedergelassen und erfolgreich die Gründung einer literarischen Gesellschaft für Armin T. Wegner betrieben. »Wir hatten die gleichen Urgroßeltern«, sagt er beiläufig. Gralla sammelt und forscht unentwegt in Sachen Wegner und weiß auch diese geradezu klassische Geschichte Marke Weimarer Republik zu berichten: Spaziergänger Wegner und Frau werden auf dem Dorfanger von Neuglobsow plötzlich von einem erregten weißhaarigen Eingeborenen aufgehalten, der dem Dichter zornig dessen Antikriegsbuch »Der Ankläger« vor die Nase hält und inquisitorisch fragt: »Sind Sie Verfasser dieses Machwerks?« - »Gewiss, ich habe ja mit meinem vollen Namen gezeichnet«, entgegnet Wegner. Der alte Herr wütend: »Gut zu wissen, ich ahnte nicht, dass wir einen solchen Mitbürger in unserer Mitte haben... Maulwürfe, die unser Vaterland unterwühlen, gibt es genug. Wir werden solches Unwesen ausrotten.« Der Alte - General Karl Litzmann, Held der kaiserlichen Armee und später glühender Verehrer Hitlers, der 1939 das polnische Lodz nach dem Neuglobsower Kaiser-Degen benennen sollte.
Wegner fühlt sich ungeachtet solcher Nachbarn in den Wäldern am Stechlin sehr wohl und von hier bricht er immer wieder auf in die Welt. Als einer der konsequentesten deutschen Pazifisten - mehrere Jahre leitete er das deutsche Sekretariat des Internationalen Bundes der Kriegsdienstgegner - unternimmt er Friedensreisen nach Skandinavien, Holland und Britannien, besucht die Sowjetunion und bricht Ende 1928 zu einer spektakulären Orientreise auf, die ihn über Baku, Jerewan, Teheran, Bagdad, Damaskus, Jerusalem nach Kairo führt. Kein anderer deutscher Schriftsteller hat die Welt der Armenier, Perser, Iraker und israelischen Juden so ausgedehnt erkundet.
Von den Bergen Irans herunterkommend, breitet sich vor Wegner die endlose mesopotamische Ebene aus: »Sie scheint ganz von der bitteren Traurigkeit des Todes erfüllt, und nur der rosige Schimmer der über ihr in der Luft schwebenden Staubmassen verrät das Geheimnis ihrer Wunder. Das ist Mesopotamien, das Reich der Wüsten und der Ströme, das nur wenige Städte besitzt, weder Hügel noch Bäume, neun Monate des Jahres hindurch unter einer unbarmherzigen Sonne brennend - ein Land ohne Schatten.«
Im irakischen Grenzort Chanekin drängen sich ihm Araber und Kurden zwischen feuchten Mauern entgegen. Er denkt an die Scharen des Darius, die von hier aus in Mesopotamien einfielen, aber auch an die persischen Pilger, die den Ort alljährlich auf ihrer Wallfahrt nach Kerbala und Nadschaf passieren, den heiligen Orten der Schiiten. Alsbald erblickt Wegner auch die Bohrtürme der Chanekin Oil Company, wohl ein Verwandter der britischen Iraq Petroleum Company, die sich nach dem Ersten Weltkrieg die fossilen Reichtümer Mesopotamiens aneignete.

Hass schürendes Zeugnis englischer Herrschaft
Bald wandert Wegener durch Bagdad - seit Jahrhunderten Madinat-es-Salam genannt, Stadt des Friedens. Für Wegner aber auch eine Stadt schmerzlicher Kriegserinnerungen. Im Ersten Weltkrieg kam er als freiwilliger Sanitätssoldat im Herbst 1915 mit der deutschen Militärmission unter Feldmarschall von der Goltz an den Tigris. Hier wurde er bei Exkursionen in den Weiten Mesopotamiens Zeuge des türkischen Völkermordes an den Armeniern - seine Fotos sind bis heute Dokumente der Massaker. Nach 20 Monaten im Osmanischen Reich wurde er wegen heftigen Menschenrechtsengagements - er veröffentlichte in Deutschland Berichte über die Schandtaten der türkischen Verbündeten Kaiser Wilhelms - nach Hause geschickt. Seine Bagdader Erlebnisse verarbeitete er in dem Briefband »Weg ohne Heimkehr« - ein ergreifendes Dokument über Krieg, Hunger, Elend, Seuchen, Tod.
Das Bagdad von 1929 weckt in Wegner zwiespältige Gefühle. Die Briten haben die Hauptstraße, die sie einfach New Street nennen, im westlichen Sinne modernisiert. Ihr aber auch einen kolonialistischen Stempel aufgedrückt - ein Kriegerdenkmal, »eine geschmacklose Bronzefigur des Generals Maude, des hier gestorbenen Eroberers von Bagdad, ein lautes und Hass schürendes Zeugnis der englischen Herrschaft«. Die Briten hatten Basra im November 1914 erobert, Bagdad aber erst im März 1917. Unabhängigkeit hatten sie den Mesopotamiern versprochen, aber sie errichteten ein Protektorat und verpassten ihnen (Kolonialminister Churchill war der Übeltäter) auch noch einen haschemitischen König (Faisal I.).
Halb im Verborgenen trifft Wegner, der immer wieder auch die Begegnung mit den Religionen des Orients sucht, in einem Kaffeehaus am Tigris einen Angehörigen der Bahai-Religion, der »den dunklen Mantel und das golddurchwirkte Kopftuch aller persischen Schiiten in Bagdad trägt«. Bahai - für Wegner eine wunderbare Lehre des Friedens, die seinem Verständnis von Toleranz so nahe kommt, dass er sich als Anhänger jenes jungen persischen Kaufmanns Mirza Taki Muhammed outet, der sich zum siebten Propheten erklärte, der laut Koran nach Adam, Noah, Abraham, Moses, Christus und Mohammed erscheinen und alle Religionen der Erde in einer Kirche vereinigen soll.
Bagdad hat in jenen Tagen an die 230000 Bewohner, Schiiten, Sunniten, christliche Chaldäer, Bahais, aber auch über 60000 Juden - Nachkömmlinge der babylonischen Gefangenschaft ihrer Väter. Wegner beobachtet: »Die Augen der jungen Juden Bagdads sind nicht nach Palästina gerichtet, sondern nach Amerika, nach seiner Freiheit, seinem Wissen, seinem Reichtum, seinem Erfolg, als breitete sich nicht im Schatten der Berge Judäas, sondern im Lichterglanz der Turmhäuser New Yorks das gelobte Land aus.«
Junge Juden ganz anderer Fasson trifft Wegner wenig später, als er mit Lola Landau das biblische Land zwischen Meer und Jordan erkundet und sich in Kibuzzim mit dem entbehrungsreichen Leben der Neusiedler vertraut macht.
Mehr als sieben Jahrzehnte nach jener Reise »Am Kreuzweg der Welten« - so der Titel seines 1930 erschienen Bestsellers - zeigt mir Gralla in Neuglobsow ein Foto jenes Schildes am Ortseingang, dessen rassistische Botschaft Armin T. Wegner und Lola Landau im Frühjahr 1933 in höchste Aufregung versetzt: »Juden kehren hier um! Sie sind in Neuglobsow-Dagow sehr unerwünscht«. Das musste die beiden ins Mark treffen. Lola Landau, die Jüdin, ohnehin. Aber auch Wegner, der die ersten Judenpogrome in den ersten Apriltagen jenes Jahres als großes Unheil begriff.

Mutiger Brief an Hitler zu Ostern 1933
Noch auf der fluchtartigen Abreise von Neuglobsow nach Berlin skizziert Wegner seinen Offenen Brief, den er am 11. April 1933 an Adolf Hitler sendet. Er gipfelt in den Sätzen: »Herr Reichskanzler, es geht nicht um das Schicksal unsrer jüdischen Brüder allein, es geht um das Schicksal Deutschlands... Denn wen muss einmal der Schlag treffen, den man gegen Juden führt, wen anders als gegen uns selbst«. Wegner geht in die märkischen Wälder. Im August 1933 wird er auf einem Zeltplatz in Sacrow bei Babelsberg verhaftet, im Berliner Columbiahaus gefoltert und durch mehrere KZ geschleppt. Im italienischen Exil überlebt er die Naziherrschaft.
»Armin kehrte nach dem Kriege nie mehr nach Neuglobsow zurück, obwohl er noch einige Male nach Deutschland kam«, berichtet Gralla. Im Frühjahr 1956, als er die geteilte deutsche Hauptstadt auf Einladung des Westberliner Senats besuchte, wäre eine Gelegenheit gewesen. Aber sein alter Weggefährte Johannes R. Becher, dessen KPD-Wahlaufruf von 1930 »An die Intellektuellen« er unterzeichnete, habe offenbar nichts von sich hören lassen.
Auch Bagdad sollte Wegner nie wiedersehen - wohl aber Jerewan und Jerusalem. In Jerewan wird er 1968 wegen seines Einsatzes für Armenien vom Katholikus mit dem Orden des Heiligen Georg geehrt. Als er an einer Denkschrift an Gamal Abdel Nasser für jüdisch-arabische Aussöhnung arbeitet, ereicht ihn die Botschaft, die Vereinigung Yad Vashem habe ihn mit dem Hinweis auf jenen Brief an Hitler in den Kreis der nichtjüdischen Märtyrer und Helden aufgenommen. Als bei der Zeremonie im Jerusalemer »Wald der Gerechten« ein Baum mit seinem Namen gepflanzt wird, hat Wegner vielleicht auch an jenen Bahai-Anhänger gedacht, der ihm in Bagdad sagte: »Gott schuf die Menschen nicht, damit sie einander umbringen sollen, und kein Teil der Welt gehört einem Volke mehr als dem anderen.«
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