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  • Für heutige Geschichtsaufarbeiter ein Ratschlag von Lepold von Ranke:

„Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist . ? .

  • ERICH SELBMANN
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Formel, nicht mehr als fünf Worte, hat ihren Platz im Zitatenschatz. Eine Aufforderung, die jede Geschichtsforschung, jede Geschichtsdarstellung beherzigen sollte - gerade in einer Zeit, da ein ganzes Volk aufgerufen ist, sich der „Aufarbeitung der eigenen Geschichte“ zuzuwenden.

„Zeigen, wie es wirklich gewesen ist...“ - diese Zeile stammt aus der Feder eines der bedeutendsten bürgerlichen Historiker des vorigen Jahrhunderts, Leopold von Ranke. Sie findet sich in der Vorrede zur „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“ aus dem Jahre 1824: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Ämter unterwindet sich der gegenwärtige Versuch nicht. Er will bloß zeigen, wie es wirklich gewesen ist.“ In der Urfassung von 1824 hieß es noch „sagen“, doch das fünfzig Jahre später, 1874, gewählte „zeigen“ ist besser - eben weil beweisen besser ist als zu behaupten.

Kenner werden wissen, daß Leopold von Ranke auf den Historiker Thukydides zurückgegriffen hat, der vor 2 400 Jahren sagte, er

schreibe für diejenigen, die zu wissen verlangen, wie es wirklich in der Vergangenheit gewesen sei und wie es daher - in Anbetracht der Natur des Menschen - immer wieder so oder ähnlich zugehen werde. Wenn Ranke sich gegen jede Absicht wandte, sich zum Richter über die Geschichte zu machen, so zweifellos nicht aus dem ohnehin nicht zu verwirklichten Ideal heraus, unparteilich zu bleiben. Nein, er wußte, daß sich die eigene, gegenwärtige Weltauffassung und die eigene Zukunftserwartung ohnehin einmischen, daß man sich also Mühe geben muß, mit unverstelltem Blick das vergangene Geschehen zu betrachten, da man ihm sonst nicht auf den Grund gehen kann. Denn: Wenn man schon von vornherein weiß, was am Ende hinten heraus kommen soll, wenn man also nur noch Fragen formuliert, für die man die Antworten schon hat - dann sollte man nicht von Geschichtsdurchdringung sprechen. Wer - wie Wolf gang Templin kürzlich in seiner Kolumne im ND schreibt: „Die DDR war von Beginn an ein Unrechtssystem“, der will und braucht sich (wie es im gleichen Satz denn auch geschah) in der Tat um die Bitterkeit solcher

Einsicht für viele Sozialisten keine Gedanken zu machen.

Daß es in diesem System Unrecht gab, ist unbestritten. Das zwingt, Fragen zu stellen: wie dieses Unrecht sich entwickeln konnte, welche Umstände es förderten und welche es hätten eindämmen oder überwinden können und wie es daneben auch noch die Normalität des Lebens gab. Alles wichtige, notwendige, wenn auch bedrückende Fragen. Wen allerdings nur die Bestätigung für ein vorgefertigtes Verdikt gesucht wird, wen nur die Aufdeckung von Unrecht, von Machtmißbrauch, von Repressionsmechanismen gewünscht ist, da kommt der Gedanke auf, ob hier nicht letzten Endes den Strafgerichten zugearbeitet und neue administrative Maßnahmen vorbereitet werden sollen? Und es ist schon des Nachdenkens wert, daß in der Begründung zur Einsetzung einer Enquete-Kommission zwar davon gesprochen wird, daß die Aufhellung von Ereignissen, Prozessen, Zusammenhängen zwar vorrangig im Osten, grundsätzlich jedoch in ganz Deutschland erfolgen soll daß aber die Erörterung der Einwirkungen von Unternehmen, Parteien und Politikern in die DDR

hinein bewußt ebenso aus dem Fragekatalog ausgeklammert wurden, wie die diversen Formen der staatlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Zusammenarbeit BRD-DDR.

Mit dem Wort „eigentlich“ forderte Ranke zur eingehenden und gewissenhaften Prüfung des vorliegenden historischen Materials, zur Sicherung der Primärquellen, zum Freimachen von Vorurteilen, zum Vermeiden voreiliger Deutungen auf. Sich dem „Eigentlichen“ zuzuwenden, meint, die Vielfalt des Historischen, seine mannigfaltigen Relationen, die politisch-sozialen und geistig-kulturellen Wirkungszusammenhänge, das Individuelle wie das Allgemeine exakt zu untersuchen. So gesehen haben sich, trotz aller bitteren Einsichten auch viele „überzeugte Sozialisten, Genossen und gewesene Genossen“ bereiterklärt, sich der Herausforderung zu stellen und bei der Aufhellung, der kritischen und selbstkritischen Prüfung der Geschichte mitzuwirken, um nicht nur einer gefährlichen Legendenbildung (sei es als Verteufelung, sei es als Nostalgie) entgegenzuwirken, sondern um vor allem den Weg mit freizumachen in lebenswertere Zustände.

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