Der Anfang vom Ende der Arbeitsgesellschaft?

Bleyen-Genschmar im Oderbruch hält mit 60,2 Prozent Deutschlands Arbeitslosenrekord

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Wenn sich die Nation nächtens auf zerwühlten Kissen wälzt, raunt die Stimme: »Ihr kennt mich nicht? Ihr habt noch nie von mir gehört? Aber ihr ahnt, dass es mich gibt. Darf ich vorstellen: Bleyen-Genschmar. Ich bin das, was ihr sein werdet. Ein Ort der Überflüssigen. Ich bin eure Angst, euer Nachtschweiß - das Einzige, dessen ihr gewiss seid.« Bleyen-Genschmar: Deutschlands Albtraum. Wahr geworden vorderhand in einer 600-Seelen-Gemeinde. Selbstverständlich liegt sie im Osten, im Oderbruch, nahe der polnischen Grenze. Doch angesichts der landesweit fortschreitenden sozialen Misere kann man auch anderswo die Furcht nicht mehr einfach wegdrücken: Ist Bleyen-Genschmar ein Vorgeschmack? So etwas wie der Anfang vom Ende? Mit 60,2 Prozent hält die Oderbruch-Gemeinde Deutschlands Arbeitslosenrekord. Fast zwei Drittel (!) ihrer Bewohner sind ohne Beschäftigung, ohne selbst erarbeitetes, ausreichendes Einkommen. Denkt man da nicht an die Prognose, die der so genannte globale Braintrust 1995 bei einem Treffen in San Franzisco erstellte? Im neuen, also in diesem Jahrhundert, sagten die Globalplayer voraus, würden nur noch 20 Prozent der Weltbevölkerung gebraucht, und eben diese 20 Prozent würden dann noch aktiv am Leben, am Verdienen und Konsumieren, teilnehmen. Während die »restlichen« 80 Prozent gewaltige Probleme bekämen, weshalb man sie in ihren Ghettos ernähren und unterhalten müsse.* Bleyen-Genschmar: kein Ghetto mit Stacheldraht (so alt ist das Jahrhundert noch nicht), sondern eines inmitten von Wiesen. Der Mai hat sie verschwenderisch mit buttergelben Blumen gespickt und gerahmt mit tiefblauen Fliederbüschen. Blühende Landschaft, wie sie im Buch steht. »Die blüht auch ohne Politiker. Die blüht sogar ganz ohne Menschen«, sagt Manfred Specht sanft, aber bitter. Im Ort, wo man sich kennt und duzt, wird Specht von allen »Manni« genannt, auch von den Kindern, mit denen er arbeitet; dies ist freilich eine Geschichte, die wir erst später erzählen werden. Manni Specht also, sanft und bitter, ist kein zorniger Mann, auch deshalb, weil er als Gemeinderatsmitglied Vorbild und - seit die Medien einfallen - so etwas wie ein Repräsentant ist. Erfreut nimmt er Lob für die Sauberkeit, die Gepflegtheit des Ortes entgegen: »Wir sind kein Säuferdorf«, sagt er dann, »wir sind ein Dorf, das zusammenhält.« Specht ist ein Werber für Bleyen-Genschmar. Obwohl er weiß, dass es keinen Zweck hat. Wir unterhalten uns im Gemeindehaus. Es steht in Genschmar - Specht erklärt uns, dass Bleyen, acht Kilometer entfernt, mit Genschmar eine Vernunftehe einging. Andernfalls hätten beide Dörfer, keins über 500 Einwohner, den Status »Gemeinde« eingebüßt, und die Mesalliance empfahl sich, waren doch Bleyen wie auch Genschmar die einzigen schuldenfreien Gemeinden im gesamten Seelower Kreis. Der Haushalt sei nach wie vor ausgeglichen - auch insofern scheint Bleyen-Genschmar zum Leben nicht der schlechteste Ort. »Wenn wir eine Zukunft hätten.« Specht schluckt: »Aber wir haben keine.« Immerhin haben sie eine Vergangenheit. Sowohl Specht als auch Bürgermeister Heinz Wilke (parteilos mit SPD-Mandat) können sich noch lebhaft erinnern. »Ein viertel Jahr lag hier die Front. Ein viertel Jahr!«, ruft Wilke aus, als helfe uns die Wiederholung, das Ausmaß von Elend und Not, das er erlebte, zu begreifen. Wilke, heute 69, war 1945 elf. Verlassene Häuser, man hauste im Deich, in Bunkern und in Unterständen. Typhus wegen der überall herumliegenden verwesenden Leichen. »Diese Generation«, sagt Wilke, »hat Bleyen-Genschmar aufgebaut. Wir tun, was wir können, damit die Alten hier noch einigermaßen friedvoll ihren Lebensabend verbringen können.« Auch er selbst, bis 89 technischer Direktor in der »Pflanze«, gehört zur Gründergeneration. Die, sieht man nur die Nachwende, letztlich glimpflicher davonkam als die der jetzt 50-Jährigen, welche Manni Specht vertritt. Als Diplomingenieur für Fördertechnik hat er einst im Kreisbetrieb für Landtechnik die Maschinen gewartet, repariert und konstruiert: »Speziell für den Oderbruchboden. Der ist fruchtbar, hält lange die Feuchtigkeit, doch wenn er austrocknet, wird er steinhart, da kannst du auch durch Beton pflügen.« Was viele Berliner vergessen haben, Manni Specht ist es gegenwärtig: Ihre Gegend, das Oderbruch, war der Gemüsegarten Berlins. Sie versorgten die DDR-Hauptstadt mit Kohl, Tomaten, Gurken, Bohnen - bis die neuen Handelsketten all das aus Holland oder aus Spanien holten. Vielleicht, hätten sie durchgehalten, hätten die Leute heute wieder Appetit auf Einheimisches. Aber die Struktur ist kaputt. Nicht nur die Bauern braucht keiner mehr, auch nicht die Verwaltungskräfte, die Baubrigaden, die Techniker. Und keine Industrie in der Nähe. Arbeit in Berlin? Illusorisch. Eisenhüttenstadt wurde runtergefahren, ebenso die Produktion in Schwedt und die des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder), dessen Zukunft ungewiss ist... »Der einzige Hoffnungsschimmer«, glaubt Specht, »ist der Flugplatz Neuhardenberg. Wenn dort mal der Tourismus blüht, könnten Ausbildungsplätze entstehen.« Im Augenblick gibt es hier nichts. Der letzte Landwirtschaftsbetrieb, der 25 Leute beschäftigt, hat gerade Insolvenz angemeldet. Wir könnten an jeder Tür klopfen, um auf einen Arbeitslosen zu treffen. Oder wie bei Kuppers auf zwei, denn sowohl Bernd Kupper, 42, als auch seine Frau Bianca hüten schon seit Jahren das Haus. Ein schönes Haus, das muss gesagt werden - 18 Jahre lang hat Bernd Kupper angebaut und ausgebaut, um aus der alten, kleinen Klitsche ein Heim für seine Familie zu schaffen, zu der auch Yasmin, 14, gehört. Dafür hat er einen Kredit aufgenommen. Kupper ist gelernter Maurer. Als »die LPG noch das Dorf war«, als sie Straßen und Siedlungen baute, hätte er zehn Hände gebraucht. Jetzt sind seine zwei zu viel: Die Firmen, in denen er unterkam, gingen Pleite, und diejenigen, die es noch gibt, stellen niemanden ein. Für Kuppers auch ein finanzielles Problem: Zwar stockt ein kleiner Gemüsegarten am Haus die Haushaltskasse auf, doch die Raten müssen bezahlt werden, und zum Leben muss auch noch was übrig bleiben. Außerdem willKupper arbeiten! Nicht nur um des Geldes willen, sondern auch, weil er das Gefühl braucht, für andere etwas machen zu können: einen Stall bauen, ein Haus. Aber wer baut noch, wer hat noch das Geld? Wenn er Schröder im Fernsehen sieht, wird er wütend und schaltet aus. »Der spart bei uns, die wir eh nichts haben, als ob dadurch Arbeitsplätze entstünden! Je weniger wir ausgeben können, desto weniger Arbeit gibt es. Hier muss Arbeit her, aber wie? Keiner kümmert sich, kein Politiker ist in Bleyen-Genschmar gewesen. Die wissen alle auch nicht weiter.« Das Arbeitsamt, das ihn drei Monate lang wegen eines »Profilings« zum Diakonischen Werk schickte, was natürlich lediglich dem Diakonischen Werk nützte, schlug jetzt vor, er solle das Haus verkaufen und mit der Familie nach Bayern gehen. Stur schüttelt Kupper den schweren Kopf: »Nie! Wer kauft denn in dieser Gegend ein Haus? Und wenn, was spränge dabei schon raus? Zu wenig, als dass wir uns anderswo ein Zuhause einrichten könnten. Und wenn wir auch dort die Arbeit verlören, wäre das endgültig der Abstieg.« Anders als Kuppers würden sich Mario Spaar und Birgit Dreger sofort »auf die Socken machen«. Doch auch ihnen hängt das Haus wie ein zentnerschwerer Klotz am Bein. Auch sie müssen noch Raten zahlen, und »so toll ist das Haus ja auch nicht, dass wir hoffen könnten, es loszuwerden, hierher zieht doch jetzt kein Schwein«. Sie 25, Schneiderin, er 36, Zimmermann, teilen das Schicksal der großen Mehrheit. Das Gehöft, auf dem sie mit dem dreijährigen Florian leben, liegt etwas abseits; ein Hund bewacht es. Nachts kommen Rehe und Wildschweine, so dass sie in ein Kartoffelfeld »mehr reinstecken müssten, als wir rausholen könnten«. Spars Arbeitslosengeld wird komplett von Krediten aufgefressen. Bleiben 150 Euro im Monat zum Leben für drei Personen. »Der Schröder hat nen Knall«, schimpft Dreger, »der und alle seine Minister müssten mal mit so wenig Geld wie unsereins auskommen müssen.« Aber das Geld sei nicht das Schlimmste: Schlimmer sei die Einsamkeit. Tag für Tag allein auf dem Hof. Ein bisschen rumwerkeln, fernsehen. Ein Dorf, das zusammenhält? »Naja«, sagt Spaar, »so war es früher. Wer heute früh raus muss und spät heimkommt, der kann abends mit einem wie mir ja nicht mehr auf ein Bier gehen.« Die Häuser und die kleinen Gärten mit den akkurat gestutzten Rasen und den Kaskaden der Spireen scheinen im krassen Gegensatz zum sozialen Crash zu stehen. »Unsinn«, sagt Gustav Possin, »man muss sich beschäftigen. Was kann man sonst machen vor Langeweile?« Possin ist Rentner, doch seine »drei Bengels, alle Handwerker, die hat es erwischt«. Der Staat müsste sich, so seine Meinung, »die Augen aus dem Kopp schämen, dass so was überhaupt möglich ist. Und dass er die Zwinge jetzt wieder nur bei den kleinen Leuten ansetzt«. Eine seiner Schwiegertöchter arbeite für zwei Euro die Stunde. »Gerade, weil hier keine Arbeit ist, wollen sie die Arbeitskräfte billiger und billiger.« Einer der Söhne ist Rudi Possin. Da auch seine Frau keine Arbeit hat, will der gelernte Zimmermann vorübergehend gen Westen ziehen. Wie sein Bruder, der sich ein dreiviertel Jahr durch Hamburg gejobbt hat und nun zurückkam. Weshalb? »Weils da auch nicht so rosig war. Mit Arbeit ist dort auch Sense.« Er fingert nach einer Zigarette. Zigaretten kauft er in Polen. Wie die meisten in Bleyen-Genschmar, die auch zum Tanken nach Polen fahren. Könnten sie nicht in Polen arbeiten? »Nee!« Rudi Possin winkt ab. »Was denken Sie, warum die Polen zum Arbeiten nach Deutschland kommen? Dort liegen die Stundenlöhne ja noch weit unter unseren, davon könnten wir in Deutschland mit unseren Lebenshaltungskosten überhaupt nicht existieren.« Wer kann, kehrt Bleyen-Genschmar den Rücken. Das sind vor allem die Jüngeren. Bleyen-Genschmar: ein sterbender Ort. Wie überall stirbt die Hoffnung zuletzt. Und damit sind wir bei Manni Spechts Geschichte. Nach einem Intermezzo als Kleinunternehmer kam er 1998 zum »Kinderring«, den Eltern in Neuhardenberg gleich nach der Wende gegründet hatten und der nun mit 50 Beschäftigten, vornehmlich auf SAM-Basis, auch Kinder und Jugendliche der näheren Umgebung auffängt. Auch Specht hat dort - mit Unterbrechungen, in denen er unbezahlt weitermacht - immer mal wieder eine Stelle, wobei von »Strukturanpassungsmaßnahme« natürlich keine Rede sein kann, bestenfalls von Sterbehilfe. Wie auch immer, ihm macht es Spaß. Er nennt sich »Medienkommunikator«, und seine Aufgabe besteht darin, Computerstützpunkte einzurichten, in denen Kinder und Jugendliche, die keinen PC besitzen, den Umgang damit erlernen können und via Netz die Heimat verlassen - um letztlich vielleicht doch zu bleiben. »Im Internet«, weiß Manni Specht, »finden sie manchmal Lehrstellen.« Manni Specht bittet um Hilfe: Gebrauchte oder neue Computer, Hardware, Scanner, Drucker, Computertische - all das wären Sachspenden, über die sich die Kinder freuen würden. Bleyen-Genschmar umhegt seinen Nachwuchs. Specht zeigt uns seine »Spatzengruppe«: Hier schult er schon die Vierjährigen aus der Kita am PC. Stolz ist er auf ein spezielles Programm, das ihnen, zwei Fliegen mit einer Klappe, zugleich beim Polnischlernen hilft, der Fremdsprache, in der Kathi Siegel, eine gebürtige Polin, sie unterrichtet. Die Hoffnung: Wenn Polen EU-Mitglied wird, werden sich deutsche Betriebe ansiedeln. Specht denkt sich, dass die Manager des Polnischen nicht mächtig sein werden und dann deutsche Meister und Vorarbeiter, die die billigen polnischen Arbeitskräfte anleiten, gebrauchen können. Ein irgendwie unmoralisches Bild - wie die Vierjährigen mit glänzenden Augen, die noch keine Niedertracht kennen, auf Vorteilsnahme getrimmt werden. Specht kontert mit einem traurigen, auch ein wenig trotzigen Blick: »Wo ist sie denn moralisch, die Welt?« Wir sind sicher, im Stillen weiß er, dass polnische Fachkräfte, die Deutsch sprechen, preiswerter sein werden. Auch Bürgermeister Wilke klammert sich noch immer an einen Strohhalm. Wenn doch mal Politiker herfänden, Bleyen-Genschmar besonders förderten, könnte sich der Ort womöglich zum Touristenzentrum entwickeln! Klar, man müsste investieren, Tourismusgewerbe ansiedeln - letztes Jahr nahm die Gemeinde 100 Euro Gewerbesteuer ein. Und sie lebt trotzdem, man könnte also die Steuern entgegenkommend senken. Die Gegend wäre ideal: die Oder mit Vögeln und mit Fischen, die Ruhe, der Radweg auf dem Deich... Hier, wenn man nicht gerade hier wohnt, kann man abschalten, alles vergessen - desaströse Politik und ungebändigte Marktkräfte. So betrachtet, ist Bleyens »Heimatstube« bereits ein Aufbruch in die Zukunft. Dort könnten sich künftige Besucher Accessoires der Geschichte ansehen, unter anderem die Kurkeln, mit denen Wilke, Draht unter den Sohlen, als Kind auf der Oder Schlittschuh lief. Harald Engel, Baufacharbeiter, betreut die Stube in SAM. Was kann man sonst machen vor Langeweile? In Bleyen-Genschmar kann man sich in der Feuerwehr, im Anglerverband, im Heimatverein, im Rentnerverein und im Schützenverein die Zeit vertreiben. Sinnstiftung und Integration für die Hebung des Selbstwertgefühls, wie sie sich die Globalplayer in San Francisco vorstellten. * Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Rowohlt Verlag GmbH, 1996

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -