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  • Kultur
  • „Schlehweins Giraffe“, Roman von BERND SCHIRMER

Ost-deutsche Stimmungsmusik

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  • Lesedauer: 3 Min.

„Da steht^san Pferd auf dem“ Flur und v !st sb»-niedlich“ J kennen Sie; den Schlager? Darf's auch 'eine Giraffe im Wohnzimmer sein? Das reimt sich nicht? Da kann man nicht mitklatschen?, Stimmt, das eingängig forsche „zack, zack“ fehlt in diesem Buch. Der Erzähler marschiert nicht fröhlich, er flaniert eher traurig mit seiner Giraffe durchs Imbißbudenland. Er hat Zeit dazu, denn er ist arbeitslos, seit „Sero“:abgewickelt wurde. Und zu allem Übel erweist sich die Giraffe auch noch als überlanger Wendehals.

Spannung von der ersten Seite an, was die dunkle Vergangenheit der Giraffe betrifft. Sie will nicht reden, obwohl sie der Sprache mächtig ist. (Nur mit dem Wort „Kolonialismus“ hat sie ihre Schwierigkeiten, obgleich sie aufmerkt, wenn sie es hört.) Warum wohl scheute sie, als sie den Briefträger sah? Und wieso hat sich ihr vormaliger Besitzer, der Maler Carl Ernst Schlehwein, so überstürzt von ihr getrennt? Er sei nach Afrika gegangen,'heißt es. Geflo-

'w^irtS ^GiraffeP Roman: Eichborn Verlag Frankfurt am Main. 160 Seiten, gebunden, 26 DM.

hen gar? „Es wundert sich keiner mehr über irgendwas, zuviel ist geschehen im letzten Jahr, jeder hat mit sich selber genug zu tun.“ So kommentiert der Erzähler weise.

Hätte er sich einrichten sollen wie seine Freunde? All diese Bibliothekare, Ethnologen, Dramaturgen und Germanisten mußten ja nun „von vorn anfangen“, denn sie hatten alle „nichts Richtiges gelernt“. Der Meteorologe Hasselblatt hat mit seiner Frau, einer habilitierten Sinologin, einen Döner-Stand aufgemacht. Der Historiker Bröckle, Revolutionsexperte, betrieb erfolglos einen Gulaschkanonen-Verleih, ehe er in der Nordwestdeutschen Klassenlotterie gewann. Nun will er eine Kneipe eröffnen und meint, daß die deutsche Einheit „auch ihr Gutes“ hat. „Seine Augen tränten, es kann auch am Sekt gelegen haben.“

Ist“-hler'..etwa jemand träÜT figWer^erfällt tteWtih-' dankbare Larmoyanz? Für seine Bitterkeit hat der Erzähler ganz private Gründe: Er vermißt seine Freundin Kristina, die ihn verlassen hat. Ja freilich, „Schlehweins Giraffe“ ist auch eine Liebesgeschichte, die so echt und eindringlich wirkt, daß man beinahe glauben möchte, sie sei dem Autor selbst geschehen.

Aber vor allem ist dieser Roman ein ganz unwiederbringliches Stück ost-deutscher Stimmungsmusik, eine aberwitzige Satire auf die Zustände in der Nichtmehr-DDR, wo sich viele Menschen dennoch nicht als BRD-Bürger fühlen. Wobei Bernd Schirmer die alltäglichen Absurditäten eigentlich nur geringfügig übertreibt, weil er distanziert und sensibel genug ist, das Irreale, Scheinbare, Vorgespielte in der Wirklichkeit zu erkennen. Seltsam, daß das beste Buch, das bisher über die „Wende“ geschrieben wurde, mit solchem Lachen gelesen werden kann.

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