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»Jeder Satz über Syrien kann morgen schon hinfällig sein«
Ronya Othmann reiste nach dem Sturz Assads nach Syrien, um ein Land im Wandel zu porträtieren. Ein Gespräch über Zusammenleben nach dem Bruch
Können Sie sich noch an den 8. Dezember 2024 erinnern, den Tag als Bashar al-Assad in Syrien gestürzt wurde? Welche Erinnerung ist Ihnen am stärksten im Gedächtnis geblieben?
Es war von Beginn an eine Mischung aus Freude und tiefer Verunsicherung, ja sogar Panik. Auf der einen Seite gab es die Hoffnung auf einen Neuanfang nach Assad, auf der anderen Seite wusste man jedoch von Anfang an, wer jetzt in Damaskus die Macht übernommen hatte. Die islamistischen HTS-Milizen hatte ja zuvor in Idlib geherrscht und waren von dort auf nach Damaskus marschiert. Vor einer Weile nannten sie sich noch Al-Nusra, davor Al-Qaida. Und sie sind für zahlreiche Verbrechen verantwortlich. Ihr Anführer Muhammad al-Dschaulani, der sich mittlerweile Al-Sharaa nennt und sich selbst zum syrischen Übergangspräsidenten ernannt hat, kämpfte einst für Al-Qaida im Irak. In einer Zeit, in der zahlreiche Verbrechen, unter anderem an Jesiden, verübt wurden.
Deckt sich diese Sicht auf die Geschehnisse mit den Erfahrungen der Menschen, mit denen sie vor Ort in Syrien gesprochen haben?
Das war je nach ethnischer oder religiöser Gruppenzugehörigkeit sehr verschieden. Syrien ist ja ein multiethnisches Land, daher gab es ganz unterschiedliche Sichtweisen. Während man in der sunnitisch-arabischen Community zwar nicht immer, aber doch eher offen auf den Machtwechsel regierte, herrschte vor allem bei den Minderheiten Entsetzen und Angst vor. Sie hatten bereits Erfahrungen mit den Islamisten gemacht, die nun die neuen Herrscher Syriens sein sollten. Sie konnten sich gut an deren Angriffe und Verbrechen erinnern. In den kurdischen Gebieten, in Rojava, wiederrum herrschte zumindest für einen kurzen Moment große Freude über den Sturz von Assad. Dazu muss man aber auch sagen, dass die HTS-Milizen nie in Rojava waren und die dortige Selbstverwaltung sich auch vergleichsweise gut militärisch verteidigen kann.
Sie sind nach dem Sturz Assads für ihr aktuelle Buch »Rückkehr nach Syrien« zweimal nach Syrien gereist. Das Land befindet sich seitdem in einem permanenten Wandel. Sie selbst schreiben: »Jeder Satz, den man heute über Syrien schreibt, kann schon eine Woche später hinfällig sein.« Was bedeutet diese Situation für die Entstehung eines Buches?
Ronya Othmann (1993) ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihr Debütroman »Die Sommer« erschien 2020 bei Hanser. Es folgten ein Lyrikband sowie die Reiseberichte »Vierundsiebzig« über die Folgen des Genozids an den Jesiden und aktuell »Rückkehr nach Syrien«. Für dieses Buch reiste die Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters zweimal nach Syrien.
Ich wollte gerade diese unsichere und unklare Phase dokumentieren. Alles passierte ja Schlag auf Schlag und auch die Reisen nach Syrien waren total atemlos. Ich denke, dass man das dem Text auch anmerkt. Diese Unmittelbarkeit war mir aber wichtig, da man aus solchen Umbruchsphasen, wie etwa auch dem Fall der Sowjetunion oder dem Sturz von Saddam Hussein im Irak 2023, häufig bereits erste Erkenntnisse daraus ziehen kann, wie es dann weitergeht. Das Buch ist der Versuch einer Chronik des aktuellen Umbruchs in Syrien.
Gleichzeitig ist in ihrem Buch die Gegenwart des Assad-Regime in Syrien immer noch spürbar. Sie beschreiben die Reste von Überwachung und Bespitzelung von Assads Geheimdiensten. Wie wirkt sich das auf das Zusammenleben und das Vertrauen zwischen den Menschen aus?
Die Folgen der Diktatur finden sich überall. Mein Vater ist in Syrien geboren und aufgewachsen und er berichtet immer wieder vom militärischen Drill und Gehorsam, der bereits in der Schule unter Assad herrschte. Selber Denken, Streit oder Argumentieren wurde nicht gelernt. Stattdessen herrschte überall in der Gesellschaft Angst, ja Paranoia vor. Die Geheimdienste konnten überall lauern. Wenn eine Lehrerin dem Sohn eines Geheimdienstchefs eine schlechte Note gab, konnte sie ins Gefängnis kommen. Menschen wurden verhaftet, weil sie nur von ihren Träumen erzählten, in denen sie selbst syrischer Präsident waren. Gefangene wurden gefoltert oder verschwanden einfach und man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Man war diesem Staat komplett ausgeliefert. Die insgesamt sieben Geheimdienste konnten machen, was sie wollten und spionierten sich auch gegenseitig aus. Dieser komplette Irrsinn führt bis in die Gegenwart zu schweren Beschädigungen der Menschen und der gesamten Gesellschaft. Als ich mit meinem Vater in einem Hotel in Damaskus eincheckte, wurden dort sofort unsere Pässe kopiert. Als mein Vater entgegnete, für wen kopiert ihr das den, die Geheimdienste seien doch jetzt Geschichte, meinte der Hotelier nur lakonisch: ‚Vielleicht kommen ja bald neue.‘
Einer der zentralen Orte des Assad-Unrechts war das Foltergefängnis Sednaya nahe Damaskus. Sie haben es bei ihrer ersten Reise besucht.
In meinen Gesprächen habe ich immer wieder gehört: Bei aller Sorge wegen der Übernahme der Islamisten, das Gute an Assads Sturz sei doch, dass endlich die Gefängnisse geöffnet wurden und die noch lebenden Menschen freikamen. Ich fand es absurd, dass wir wenige Tage nach der Befreiung einfach in Sednaya reinspazieren konnten. Mir sind besonders der Geruch und der Schmutz in Erinnerung. Sie haben einen Eindruck vermittelt, unter welch schrecklichen Bedingungen die Menschen dort leben mussten. Für mich war es ein wirklich beängstigender Ort. Hinzu kam, dass überall Akten und Dokumente offen herumlagen. Man konnte gar nicht anders, als ständig auf sie zu treten. Das Regime hat alles akribisch dokumentiert: Jede Essenslieferung, Haftbefehle, etc. Sogar die Morde wurden dokumentiert, um sich auch gegenüber Vorgesetzten abzusichern. Bei all diesen Zetteln handelt es sich somit um wichtiges Beweismaterial. Diese werden jedoch nicht gesichert. Eine Aufarbeitung der Verbrechen wird damit schwierig.
Sie haben bereits die Unterschiedlichkeit Syriens angesprochen. Im Buch stellen sie die von Islamisten dominierte Region Idlib dem kurischen Rojava gegenüber.
Rojava kenne ich ja bereits von den Reisen meiner Kindheit. Dort fand ich es schon immer recht angenehm, gerade als junge Frau oder Teenagerin. Man kann sich dort offen bewegen und auch anziehen was man möchte. Gegenwärtig ist das immer noch so. Man sieht Frauen, wie sie Motorrad fahren, alleine einkaufen oder in Geschäften arbeiten – mit oder ohne Kopftuch. Hinzu kommen Frauen, die öffentliche Positionen bekleiden. Frauen sind Teil der Sicherheitskräfte oder aktiv in Politik und Verwaltung. Daher hat man auch ständig mit Frauen zu tun und bewegt sich nicht in einer reinen Männerwelt. In Idlib war das ganz anders. Dort gibt es sogar in Cafés Geschlechtertrennung und ich war die einzige Frau ohne Kopftuch oder Hijab. Dementsprechend war auch die Stimmung dauernd sehr angespannt. Hinzu kommt, dass es dort auch ein Denkmal für die Hamas gibt. Und man kann in Idlib nicht mit syrischen, sondern nur mit türkischer Lira bezahlen. Das zeigt wie groß dort der Einfluss von der Türkei ist.
Sie haben viel mit syrischen Minderheiten gesprochen, die nach dem Sturz Assads vielfach Gewalt ausgesetzt waren. So gab es Angriffe auf die alawitische Gemeinschaft in Latakia sowie auf die drusische Region Suweida. Gibt es dort Hoffnungen auf ein »neues Syrien«?
Zunächst gibt es die Forderung, diese Massaker aufzuarbeiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Das wird wohl allerdings auf Widerstände stoßen, da an diesen Taten auch HTS-Milizen bzw. Teile der neuen syrischen Armee beteiligt waren. Al-Dschaulani hatte entweder nicht den Willen oder die Kraft, diese Verbrechen an den Minderheiten zu verhindern. In ihren Gebieten herrscht nun natürlich Angst vor. Doch auch in Städten wie Hama oder Homs leben zum Beispiel Alawiten in sunnitischen Nachbarschaften. Dort trauen sich vielfach Frauen nicht mehr alleine auf die Straße zu gehen, da es zu Entführungen kommt. Viele sind daher in den Libanon geflohen. Auch bei den Drusen in Suweida beobachtet man die Lage genau. Dort hofft man auf Israel als Schutzmacht, dass jedoch auch erst nach den Massakern eingegriffen hatte. Um Vertrauen zu schaffen, bräuchte es wirkliche Sicherheit, die von außen garantiert werden müsste. Ich denke, Friedenstruppen der Vereinten Nationen könnten hierfür eine Lösung sein.
Im Oktober 2025 wurde erstmals in Syrien gewählt. Wie viel Demokratisierung erwarten sie davon?
Wenn man genau zuhört, sprechen ja nicht einmal die neuen Machthaber in Damaskus selbst von Demokratie oder Demokratisierung. Die Wahlen sind eine Farce. Für mich sind sie ein Schauspiel, dass lediglich die eigene Macht legitimieren und nach außen den Anschein der Mitbestimmung erwecken soll. Mit Demokratie hat das nichts zu tun. Al-Dschaulani hat selbst ein Drittel der Parlamentsmitglieder ernannt und auch der Rest wurde nur über indirekte Maßnahmen gewählt – Rojava und Suweida waren komplett von den Wahlen ausgeschlossen.
Gleichzeitig hat der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) bei seiner Reise nach Syrien dem neuen Regime für »Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« gedankt. Was denken sie dazu?
Ich musste laut auflachen. Al-Dschaulani selbst hat gerade bei seinem USA-Besuch gesagt, er sei stolz auf seine Geschichte und schäme sich für keine Phase, die er durchgemacht habe. Ohne eine glaubwürdige Distanzierung von seiner dschihadistischen Vergangenheit kann ich mir nicht vorstellen, dass er für Rechtsstaatlichkeit eintreten wird. Absurd am Besuch des deutschen Außenministers war zudem noch, dass seine Aussagen über die massive Zerstörung in Syrien hierzulande für so große Kritik gesorgt haben. Damit hatte er ja sogar recht. Denn wenn man etwa von Aleppo nach Homs fährt oder sich einzelne Stadtteile in Damaskus ansieht, sieht man die komplette Zerstörung des Landes ja eindeutig. Wadephul hätte vielmehr dafür kritisiert werden, dass er an eine Demokratisierung durch Islamisten glaubt.
Was darf man für Syrien hoffen?
Für Syrien hoffe ich, dass man nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt. Am Beispiel von Saddam Hussein im Irak oder von Assad zeigt sich, was passiert, wenn man Diktatoren stützt und damit legitimiert. Der westlichen Staatengemeinschaft ging es dabei immer um Stabilität im Nahen Osten. Doch die Minderheiten mussten durch Verfolgung, Massaker und Genozide den Preis für diese vermeintliche Stabilität bezahlen. Auch am Umgang mit der Taliban in Afghanistan sieht man aktuell das gleiche Muster. Nachdem sie zunächst angekündigt hatten, sich ‚moderat‘ zu verhalten, werden jetzt Frauenrechte massiv zurückgefahren. Dieser laxe Umgang mit einem islamistischen Regime könnte in einem zweiten Schritt auch dazu führen, dass weltweit der Islamismus gestärkt wird und auch Syrien zu einer neuen Brutstätte radikaler Strömungen wird.
Nun gilt die Selbstverwaltung von Rojava als Beispiel für ein demokratisches und multiethnisches Zusammenleben. Könnte die Region zu einem Vorbild für das gesamte Land werden?
Al-Dschaulani und seine HTS-Milizen sind militärisch an die Macht gekommen, als sie Damaskus erobert haben. Sie haben darüber hinaus jedoch keine Legitimation. Das neue Regime hat somit nicht mehr Rechte, für Syrien zu sprechen, als etwa Rojava, das ja schon seit 13 Jahren besteht. Ich kann daher nur schwer nachvollziehen, warum die neuen islamistischen Machthaber in Damaskus als Ansprechpartner für das Land akzeptiert werden und nicht etwa auch die Selbstverwaltung. Rojava könnte ein Partner sein, über den man Einfluss nehmen könnte. Dort gibt es ja genügend positive Entwicklungen: Etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Mitbestimmung der Minderheiten. Sicherlich gibt es auch dort genügend Defizite, aber man hat eine demokratische, geneinsame Basis, auf der Syrien aufgebaut werden könnte. Bei den Islamisten in Damaskus geht es gegenwärtig lediglich darum, neuen Massaker an Minderheiten zu verhindern. Der Vertrauensvorschuss, den sie genießen, ist keineswegs gerechtfertigt.
»Rückkehr nach Syrien«, Rowohlt, 192S. geb., 22€.
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