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Irre Tage an der Trasse
Erdgastrasse - ein Jugendobjekt in Russland und revolutionäre Romantik
Als die FDJ-Singebewegung diese Zeilen trällerte, träumte der Junge Pionier Torsten Keiling in Nordhausen von großen Abenteuern. Und als sich der soeben entlassene NVA-Gefreite Torsten Keiling im Frühherbst 1989 freiwillig an die Erdgastrasse verpflichtete, ahnte er kaum etwas von der rauen Realität, die der Lyriker Gerd Eggers nach seinem Trassenbesuch 1976 in Versform brachte. Poetisch verdichtet, aber dennoch recht offenherzig, schrieb Eggers vom vielen Schnee, der sich im kurzen Frühjahr in Schlammlöcher und im erbärmlich heißen Sommer zu stiebendem Staub verwandelte; berichtete von der zähen Arbeit der Schweißer und von ihrer schweren Arbeit und erwähnte sogar, das alles stünde in keinem Bericht. So war es wohl tatsächlich, aller verbreiteten Trassenromantik zum Trotz.
Keiling kam im September 1989 in ein Arbeitscamp in der Nähe von Perm, einer Stadt am Rande des Ural, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Unter seinem dortigen Spitznamen »Holzinger« erzählt er, »wie es wirklich war an der Erdgasleitung in Russland«: »An einem Pfeiler hing noch das Schild: Treffpunkt Erdgastrasse, darunter das FDJ-Emblem und ein stilisiertes Rohr, Relikt aus einer Zeit, als dieses Land noch Deutsche Demokratische Republik hieß und unsere Arbeit ein "Jugendobjekt" war. Lange her.«
Holzingers Bericht ist nicht minder spannend als manche Goldgräbergeschichte Jack Londons. Das mag an den zumindest zeitweise ähnlichen Natur- und Lebensumständen beider Autoren liegen. Zahlreiche Wiederholungen schmälern den Report nicht. Sie vertiefen vielmehr das Verständnis für die Lage der Trassenarbeiter. Die harten Winter mit dem schier ewigen Frost und Eis wiederholten sich ebenso wie die heißen erdrückenden Sommer und die damit verbundenen Strapazen. Wie hält man das aus - fern der Heimat und in einer rauen Männerwelt? Rauchen, Saufen - Saufen und Rauchen. Seitenweise beschreibt »Holzinger« Szenen mit schwersten Alkoholexzessen. Gleich literweise wird der Glühwein in der Waschmaschine heiß gemacht und mit Wodka »verdünnt« gesoffen; hier kotzt einer unter dem Gelächter des ganzen rauchgeschwängerten »Kulturraums« auf den Tisch, dort einer aus dem Fenster. Aber war das Trassenlied von Eggers, in dessen erster Strophe es hieß »hast Du noch n Wodka, komm nehm wir noch n Schluck« nicht auch eher ein sozialistisches Sauflied als ein Helden-Song? Lange her auch dies. Einer erzählt versaute Witze, ein anderer von seiner Braut daheim. Bei dieser Gelegenheit gibt es ein eingetauschtes Spanferkel, bei einer anderen eine russische Frau. Dann, um vier Uhr morgens, heißt es, hinaus in Eis und Kälte, den Ural angeworfen, die Maschinen repariert oder Rohre gewartet. Nichts für zarte Jungs, nur raue Kerle setzen sich hier durch.
Keiling beleidigt keinen seiner Kollegen; er schildert ihre Stärken und Schwächen. Stark sind sie bei der Arbeit und im Geschwätz über Weiber und Sex; schwach, wenn sie an zu Hause denken. Allein gelassen kommen sie sich vor, dort am ehemaligen Freundschaftsobjekt, wo jetzt der raue Wind des Kommerzes ankommt, wo Entlassungen angesagt sind. So fragen sie immer öfter: Was sollen wir zu Hause, wer will uns dort, was können wir denn schon? Also wird durchgehalten, ölverschmiert ausgeharrt und als Ausgleich das sauerverdiente Geld auf dem Konto gezählt und weiter gesoffen.
Ein erbärmliches Gefühl, als ein Manager die Großgeräte und Maschinen zu Spottpreisen verschleudert; ein ängstliches, als immer mehr »billige« Arbeiter aus Polen und Russland die deutschen Kräfte ersetzen, und eine Ohnmacht, als »Holzinger« nach drei Jahren Russland von seinem Betrieb abgewickelt, in die neue, bunt schillernde Welt entlassen wird. »Doch das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.«
Wer mehr über die Erdgastrasse wissen möchte; Kontakt zu Ehemaligen sucht oder einen Job im heutigen Rohrleitungsbau, der sollte sich die Internetseite: www.erdgastrasse.de ansehen.
Torsten Keiling: Perm - das weite Land. Holzinger erzählt, wie es wirklich war an der Erdgasleitung in Russland, Rhino Verlag, Weimar 2002. 147S., br., 9,90 Euro.
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