Nach Marx und Frankfurter Schule: Anerkennung und Gerechtigkeit
Zwischen New York und Frankfurt - Debatte um eine kritische Gesellschaftstheorie
Schon die Anerkennungsbeziehung der Liebe und Fürsorge im Konzept von Honneth müsste durch den Neid ergänzt werden, der die soziale Stellung eines anderen mit legalen und illegalen Mitteln anstrebt. Überhaupt sind zwei wesentliche Kritikpunkte an der Erneuerung der kritischen Theorie durch Honneth und Fraser angebracht, wobei die Auffassungen von Fraser zumindest der sozialistischen Idee noch eine Chance geben, während Honneth »das sozialistische Ideal der Umverteilung als eine abhängige Größe im Kampf um Anerkennung« betrachtet.
Erstens spielt der qualitative Technologiewandel, die Revolution der Denkzeuge, das Heraustreten der Menschen aus dem eigentlichen Fertigungsprozess materieller Güter, kaum eine Rolle. Damit wird für eine Zeitdiagnose die Möglichkeit einer neuen, sich schon herausbildenden Produktionsweise mit anderen sozialen Schichtungen und der Umstrukturierung der Arbeitstätigkeiten vernachlässigt. Zweitens kann der Monismus der Anerkennung von Honneth und der Dualismus von Anerkennung und Umverteilung von Fraser auf einen übergreifenden Monismus zurückgeführt werden, wenn man die Menschen als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse in individueller Ausprägung fasst. Soziale Strukturen sind im Kapitalismus doch immer noch mit Eigentumsfragen gekoppelt, vor allem die Produktionsmittel betreffend - was in den Betrachtungen ebenfalls keine Rolle spielt.
Aus dem Verständnis des Individuums in seinem allgemeinen Menschsein und in seiner konkret-historischen sozialen Lage kann man Humankriterien ableiten, die ausdrücken, wie weit eine Gesellschaft den Freiheitsgewinn der autonomen Individuen fördert. Zu ihnen gehören die sinnvolle Betätigung, die persönlichkeitsfördernde Kommunikation, die Sicherung materieller und kultureller Grundbedürfnisse aller Gesellschaftsglieder, die Förderung individueller Kreativität und die Integration Behinderter und sozial Schwacher nach dem Prinzip der Solidarität. Soziale Gerechtigkeit umfasst aus dieser Sicht mehr als Anerkennung und Umverteilung, obwohl beide konstituierend für eine moderne Theorie der Gerechtigkeit sind.
Eine kritische Gesellschaftstheorie kann so nicht auf Moraltheorie aufgebaut werden. Ohne einem einseitigen Ökonomismus zu verfallen, wird eine Zeitdiagnose die Auswirkungen kapitalistischer Globalisierung im Streben nach Macht, Ressourcen, verbrämt mit dem Schein von Alibiwörtern wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, untersuchen müssen. Präventivkriege einer Weltmacht sind zwar kulturelle Auseinandersetzungen um Wertesysteme, doch darauf nicht zu reduzieren. Der internationale Markt verlangt den Abbau von Hemmnissen für sein Wirken, selbst wenn Blutopfer sich dabei ergeben. Der uneingeschränkte Kapitalfluss wird mit allen Mitteln gesichert. Eine dem modernen Kapitalismus angemessene kritische Gesellschaftstheorie ist zu entwickeln, wobei auf den vorhandenen Ansätzen aufgebaut werden kann. Abgebaut werden müsste dazu noch das vorhandene Utopiedefizit, das anschauliche und realisierbare Ideale einer zukünftigen humanen Gesellschaft vermissen lässt.
Honneth hat in einem weiteren Büchlein in Auseinandersetzung mit prominenten Entwürfen einer Theorie der Intersubjektivität erläutert, wie der kommunikative Akt der Anerkennung zu verstehen ist, was zum bloßen Erkennen von Subjekten hinzukommen muss - damit sie zu öffentlich anerkannten Personen werden.
In dem ersten Aufsatz, dem das Büchlein den Titel »Unsichtbarkeit« verdankt, betrachtet er eine Erfahrung, die sicher viele kennen. Es geht um die soziale Unsichtbarkeit von Personen, die ignoriert werden, indem sie zwar gesehen, doch nicht beachtet werden, indem durch sie hindurchgeschaut wird - es geht also um die Erfahrung der Nicht-Anerkennung.
Als Grade der Verletzbarkeit nennt er die harmlose Unaufmerksamkeit gegenüber einem Bekannten auf einer Party, die selbstvergessene Ignoranz des Hausherrn gegenüber der Putzfrau und das demonstrative Hindurchsehen durch einen Schwarzen, was dieser als Demütigung verstehen muss. Während visuelle Sichtbarkeit Grundlage der Erkenntnis sei, verlange Anerkennung den expressiven Akt der Befürwortung durch Gesten oder Worte, so Honneth.
Nicht ohne Analyse der sozialen Systeme
In seinen weiteren Analysen befasst er sich mit Fichte, Gadamer, Sartre und dem moralischen Realismus von John McDowell, was Philosophen und Soziologen, die sich für Theorien der Intersubjektivität interessieren, sicher anregen kann. Sein Schlussaufsatz unter dem Thema »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität« ist dem vermeintlichen Versagen der Psychoanalyse gewidmet. Adorno und Marcuse hatten einen Prozess der Zerstörung der individuellen Autonomie diagnostiziert, der Psychoanalyse überflüssig werden ließ. Doch nun hätten wir es, so der Autor, nicht mehr mit einem angepassten und autonomieunfähigen Individuum zu tun, sondern mit einer gesteigerten Individualität, was Psychoanalyse herausfordere.
Eine kritische Gesellschaftstheorie kommt einerseits nicht ohne eine Analyse der sozialen Systeme aus und muss andererseits die komplexe Entwicklung autonomer Individuen berücksichtigen. Die Ausführungen von Honneth und Fraser liefern wichtige Bausteine dafür, obwohl manche Einseitigkeiten bei den Betrachtungen nicht zu übersehen sind.
Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main) 2003. 306S., br., 13 EUR.
Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Suhrkamp Verlag 2003. 162 S., br., 10 EUR.
Unser Autor, Philosophieprofessor in Berlin, ist Präsident der Leibniz-Sozietät.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.