Nach Marx und Frankfurter Schule: Anerkennung und Gerechtigkeit

Zwischen New York und Frankfurt - Debatte um eine kritische Gesellschaftstheorie

  • Herbert Hörz
  • Lesedauer: 7 Min.
Die kritische Theorie der Frankfurter Schule, vertreten vor allem von Max Horkheimer und Theodor Adorno, wollte zur Revolutionierung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Sie dehnte, bezogen auf die Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx, die Kritik auf alle Ansprüche moderner Wissenschaften aus. Ideologiekritik war für sie immanentes Prinzip jeder Vernunft. Ihre Kritik kapitalistischer Kulturformen und Lebensweisen, ihre marxistische Tönung und ihr Anspruch, praxisanleitend zu sein, wirkten sich auf gesellschaftstheoretisch orientierte Wissenschaften und auf die politische Programmatik der Achtundsechziger aus. Es ist nun interessant, zu sehen, was von diesen Ansprüchen unter den heutigen Bedingungen geblieben ist. Die soziale Unsichtbarkeit Auskunft gibt eine interessante Debatte zwischen der New Yorker Philosophieprofessorin Nancy Fraser und Axel Honneth, dem jetzigen Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Ihre politisch-philosophische Kontroverse ist im Suhrkamp Verlag publiziert. Eine moderne Gerechtigkeitstheorie baut Honneth auf dem Schlüsselbegriff der »Anerkennung« auf, der die Forderungen von ethnischen Gruppierungen, den Streit um das muslimische Kopftuch und die homosexuelle Ehe, die Bewertung weiblicher Hausarbeit u.a. umfasse. Nancy Fraser ist sich der sozialen Relevanz solcher Bewegungen um Anerkennung zwar bewusst, setzt dagegen jedoch eine zweidimensionale Konzeption der Gerechtigkeit, einen »perspektivischen Dualismus«: Sowohl die statusmäßige Benachteiligung von Gruppen, für deren Aufhebung sich Bürgerrechtsbewegungen, Feminismus und Homosexuelle einsetzen, als auch die klassenmäßige Forderung nach Umverteilung der gesellschaftlichen Güter, führt nach ihr zur geforderten »partizipatorischen Parität« aller Glieder der Gesellschaft an gesellschaftlichen Prozessen. »Nach dieser Norm erfordert die Gerechtigkeit gesellschaftliche Vorkehrungen, die allen (erwachsenen) Gesellschaftsmitgliedern erlauben, miteinander als Ebenbürtige zu verkehren.« Dazu wären zwei Bedingungen erforderlich: Objektiv muss die Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit und das Stimmrecht der Partizipierenden gewährleisten. Intersubjektiv sollen institutionalisierte kulturelle Wertmuster allen den gleichen Respekt erweisen. Moralphilosophie, Gesellschaftstheorie und politische Analyse sollen, so das Anliegen beider Autoren, in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammengeführt werden. Es ist eine interessante Lektüre, da die oft theoretisch subtilen Argumente und Gegenargumente zu prüfen sind. Doch oft vermisst man die Probleme sozialer Gerechtigkeit, die viele Menschen bewegen, wie die wachsende Zahl kriegerischer Auseinandersetzungen um Macht und Ressourcen, ansteigende Armut, Analphabetentum, Obdachlosigkeit. Im gemeinsamen Vorwort wird gefragt: »Soll der gegenwärtig existierende Kapitalismus als ein soziales System verstanden werden, in dem eine Wirtschaftsordnung, die nicht mehr von institutionalisierten Kulturmustern direkt gesteuert wird, abgekoppelt von anderen gesellschaftlichen Sphären existiert? Oder soll die kapitalistische Wirtschaftsordnung vielmehr als das institutionelle Resultat einer Durchsetzung von kulturellen Werten begriffen werden, die ihrer ganzen Struktur nach auf einer asymmetrischen Form der Anerkennung gegründet sind?« Selbstverständlich wehrt sich dann Fraser gegen die in der ersten Frage angedeutete einseitige Haltung eines Ökonomismus, den beide für überholt erklären. Sie belegen mit vielen Beispielen die Durchdringung von Marktwirtschaft und kulturellen Determinanten. Fraser wendet sich auch gegen den im Mainstream liegenden Kulturalismus, der Klassenunterschiede vernachlässige und das Problem der Umverteilung als Ausdruck eines Strebens nach Gerechtigkeit ignoriere. Honneth orientiert sich dagegen voll auf die Phänomenologie sozialer Unrechtserfahrungen, um den Kampf um Anerkennung als grundlegende Zeitdiagnose zu rechtfertigen. Dieser findet nach ihm in drei Sphären statt, in denen der Liebe (Fürsorge), des Rechts und der Freundschaft. Deshalb spricht er »von der kapitalistischen Gesellschaft als einer institutionalisierten Anerkennungsordnung«. Reicht es nun aus, die kritische Gesellschaftstheorie auf emanzipatorische Bewegungen zu orientieren, die sich schon in der Öffentlichkeit artikulieren, wie Fraser vorschlägt, oder auf soziale Unrechtserfahrungen als Grund für Anerkennungsbewegungen hinzuweisen, dem Honneth alles unterordnet? Beides ist problematisch. Was ist mit den Bewegungen, die sich erst noch weiter formieren werden? Dazu gehören die Arbeitslosen, die im Buch kaum eine Rolle spielen. Sie brauchen nicht die Anerkennung ihres Status, sondern bezahlte Arbeit. Was ist mit der wachsenden Armut, die zwar angesprochen und von Fraser in die Umverteilung der Güter einbezogen wird? Doch wir können sicher mit wachsenden Bewegungen armer Länder gegen die modernen Industrieländer ebenso rechnen, wie mit zunehmenden Protesten gegen den durch kein sozialistisches Korrektiv gebremsten Sozialabbau im modernen Kapitalismus. Schon die Anerkennungsbeziehung der Liebe und Fürsorge im Konzept von Honneth müsste durch den Neid ergänzt werden, der die soziale Stellung eines anderen mit legalen und illegalen Mitteln anstrebt. Überhaupt sind zwei wesentliche Kritikpunkte an der Erneuerung der kritischen Theorie durch Honneth und Fraser angebracht, wobei die Auffassungen von Fraser zumindest der sozialistischen Idee noch eine Chance geben, während Honneth »das sozialistische Ideal der Umverteilung als eine abhängige Größe im Kampf um Anerkennung« betrachtet. Erstens spielt der qualitative Technologiewandel, die Revolution der Denkzeuge, das Heraustreten der Menschen aus dem eigentlichen Fertigungsprozess materieller Güter, kaum eine Rolle. Damit wird für eine Zeitdiagnose die Möglichkeit einer neuen, sich schon herausbildenden Produktionsweise mit anderen sozialen Schichtungen und der Umstrukturierung der Arbeitstätigkeiten vernachlässigt. Zweitens kann der Monismus der Anerkennung von Honneth und der Dualismus von Anerkennung und Umverteilung von Fraser auf einen übergreifenden Monismus zurückgeführt werden, wenn man die Menschen als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse in individueller Ausprägung fasst. Soziale Strukturen sind im Kapitalismus doch immer noch mit Eigentumsfragen gekoppelt, vor allem die Produktionsmittel betreffend - was in den Betrachtungen ebenfalls keine Rolle spielt. Aus dem Verständnis des Individuums in seinem allgemeinen Menschsein und in seiner konkret-historischen sozialen Lage kann man Humankriterien ableiten, die ausdrücken, wie weit eine Gesellschaft den Freiheitsgewinn der autonomen Individuen fördert. Zu ihnen gehören die sinnvolle Betätigung, die persönlichkeitsfördernde Kommunikation, die Sicherung materieller und kultureller Grundbedürfnisse aller Gesellschaftsglieder, die Förderung individueller Kreativität und die Integration Behinderter und sozial Schwacher nach dem Prinzip der Solidarität. Soziale Gerechtigkeit umfasst aus dieser Sicht mehr als Anerkennung und Umverteilung, obwohl beide konstituierend für eine moderne Theorie der Gerechtigkeit sind. Eine kritische Gesellschaftstheorie kann so nicht auf Moraltheorie aufgebaut werden. Ohne einem einseitigen Ökonomismus zu verfallen, wird eine Zeitdiagnose die Auswirkungen kapitalistischer Globalisierung im Streben nach Macht, Ressourcen, verbrämt mit dem Schein von Alibiwörtern wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, untersuchen müssen. Präventivkriege einer Weltmacht sind zwar kulturelle Auseinandersetzungen um Wertesysteme, doch darauf nicht zu reduzieren. Der internationale Markt verlangt den Abbau von Hemmnissen für sein Wirken, selbst wenn Blutopfer sich dabei ergeben. Der uneingeschränkte Kapitalfluss wird mit allen Mitteln gesichert. Eine dem modernen Kapitalismus angemessene kritische Gesellschaftstheorie ist zu entwickeln, wobei auf den vorhandenen Ansätzen aufgebaut werden kann. Abgebaut werden müsste dazu noch das vorhandene Utopiedefizit, das anschauliche und realisierbare Ideale einer zukünftigen humanen Gesellschaft vermissen lässt. Honneth hat in einem weiteren Büchlein in Auseinandersetzung mit prominenten Entwürfen einer Theorie der Intersubjektivität erläutert, wie der kommunikative Akt der Anerkennung zu verstehen ist, was zum bloßen Erkennen von Subjekten hinzukommen muss - damit sie zu öffentlich anerkannten Personen werden. In dem ersten Aufsatz, dem das Büchlein den Titel »Unsichtbarkeit« verdankt, betrachtet er eine Erfahrung, die sicher viele kennen. Es geht um die soziale Unsichtbarkeit von Personen, die ignoriert werden, indem sie zwar gesehen, doch nicht beachtet werden, indem durch sie hindurchgeschaut wird - es geht also um die Erfahrung der Nicht-Anerkennung. Als Grade der Verletzbarkeit nennt er die harmlose Unaufmerksamkeit gegenüber einem Bekannten auf einer Party, die selbstvergessene Ignoranz des Hausherrn gegenüber der Putzfrau und das demonstrative Hindurchsehen durch einen Schwarzen, was dieser als Demütigung verstehen muss. Während visuelle Sichtbarkeit Grundlage der Erkenntnis sei, verlange Anerkennung den expressiven Akt der Befürwortung durch Gesten oder Worte, so Honneth. Nicht ohne Analyse der sozialen Systeme In seinen weiteren Analysen befasst er sich mit Fichte, Gadamer, Sartre und dem moralischen Realismus von John McDowell, was Philosophen und Soziologen, die sich für Theorien der Intersubjektivität interessieren, sicher anregen kann. Sein Schlussaufsatz unter dem Thema »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität« ist dem vermeintlichen Versagen der Psychoanalyse gewidmet. Adorno und Marcuse hatten einen Prozess der Zerstörung der individuellen Autonomie diagnostiziert, der Psychoanalyse überflüssig werden ließ. Doch nun hätten wir es, so der Autor, nicht mehr mit einem angepassten und autonomieunfähigen Individuum zu tun, sondern mit einer gesteigerten Individualität, was Psychoanalyse herausfordere. Eine kritische Gesellschaftstheorie kommt einerseits nicht ohne eine Analyse der sozialen Systeme aus und muss andererseits die komplexe Entwicklung autonomer Individuen berücksichtigen. Die Ausführungen von Honneth und Fraser liefern wichtige Bausteine dafür, obwohl manche Einseitigkeiten bei den Betrachtungen nicht zu übersehen sind. Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main) 2003. 306S., br., 13 EUR. Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Suhrkamp Verlag 2003. 162 S., br., 10 EUR. Unser Autor, Philosophieprofessor in Berlin, ist Präsident der Leibniz-Sozietät.

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