Keine Geduld mit Sprachbehinderten

Verbände fordern gesellschaftliches Umdenken

  • Daniel Rühmkorf
  • Lesedauer: 3 Min.
Vertreter zahlreicher Selbsthilfe-Verbände machten Ende vergangener Woche in Berlin auf die Probleme Sprachbehinderter aufmerksam.

Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen.« Dieser Satz Carl Jaspers soll die Öffentlichkeit ermahnen, die mehr als 1,5 Millionen sprachbehinderten Menschen, die in Deutschland leben, nicht länger auszugrenzen. Vertreter von Verbänden kritisierten auf einer Veranstaltung in Berlin, hier zu Lande mangele es an der Bereitschaft, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sich nicht schnell und präzise auszudrücken vermögen.
Täglich und vielfältig seien die Diskriminierungen. In der Schule können Lehrer wie Mitschüler mit der Schwäche sprachbehinderter Menschen nicht umgehen, so der Vorsitzende der Stotterer-Selbsthilfe Berlin, Axel Piechotka. Aber auch in Geschäften, an Schaltern und in Behörden werde Sprachbehinderten wenig Geduld entgegengebracht. Für die 800 000 Menschen, die stottern, sei es wichtig, dass sie aufgrund ihres sprachlichen Defizits nicht für geistig behindert gehalten werden, was immer wieder passiere. Wenn man ihnen die nötige Geduld entgegenbrächte, könnten diese Menschen besser mit ihrer körperlichen Behinderung leben.
Mehr als 400 000 Menschen leiden in Deutschland unter Aphasie, der Unfähigkeit zu sprechen oder Sprache zu verstehen. Ursache dieser Störung sind Schlaganfälle, Schädel-Hirn-Verletzungen oder Gehirnblutungen. Zusätzlich zu den spastischen Lähmungen des Körpers kommt die Unfähigkeit, Dinge zu benennen. Ohne intensive sprachtherapeutische Behandlung fehlt diesen Menschen die Möglichkeit, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Einer der Teilnehmer der Veranstaltung in Berlin dankte seiner Krankenkasse dafür, dass er die Möglichkeit hatte, nach einem Schlaganfall 18 Monate in verschiedenen Kliniken und Reha-Einrichtungen behandelt zu werden. Nur so habe er langsam wieder die Sprache erlernt. Er befürchtet, dass durch die Rationierung im Gesundheitswesen derart langfristige Therapien der Vergangenheit angehören.
Eine weitere Gruppe, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, sind die über 12 000 Kehlkopflosen, die nach einer Krebserkrankung ihre Stimme verloren haben. Nur durch intensives Üben können sie lernen, sich mit einer Ersatzstimme, die aus der Speiseröhre heraus die Worte formt, oder einer elektronischen Sprechhilfe verständlich zu machen. Ihnen wird oftmals nicht ausreichend geholfen, mit den psychischen Folgen des Stimmverlustes umzugehen.
Sprachbehinderte werden durch die negativen Erfahrungen im Alltag in eine Vermeidungshaltung getrieben. Das Resultat: Sie sprechen immer weniger, um die Defizite zu verdecken, wodurch die Kommunikationsprobleme aber nicht geringer werden. Die Folge ist Vereinsamung und Ausgrenzung.
»Jetzt holen Sie doch erst einmal tief Luft«, ist einer der gut gemeinten, wenn auch nutzlosen Tipps, um Sprachbehinderten auf die Sprünge zu helfen. Und auch der Satz »überlegen Sie doch erst einmal, was Sie sagen wollen« ist nicht dazu geeignet, den blockierten Redefluss zu beschleunigen. Je größer die Ungeduld der Zuhörer, desto größer der Druck auf den Betroffenen. So entsteht ein Teufelskreis, der sich nur durchbrechen lässt, wenn den behinderten Menschen die Zeit gelassen wird, sich entsprechend ihrer Möglichkeiten auszudrücken.
Die Selbsthilfeverbände fordern deshalb ein Umdenken im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Durch mehr Akzeptanz und Toleranz, Aufklärung im Schulunterricht und Unterstützung durch die Krankenkassen könne ihnen wirklich geholfen werden.

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