Das neue Schuljahr hatte bereits begonnen, als Mitte September Fräulein Nitzschke in der dritten Schulstunde mit einem Neuen in der Klasse erschien. Fräulein Nitzschke war die Klassenlehrerin und gab bei uns Deutsch und Heimatkunde. Sie war Ende vierzig und unverheiratet und legte Wert darauf, als Fräulein angesprochen zu werden. Wenn einer der Eltern mit ihr sprach und Frau Nitzschke zu ihr sagte, verbesserte sie ihn mit einem leichten, nachdrücklichen Lächeln, als wäre es für sie von besonderer Bedeutung, nicht verheiratet zu sein. Sie war eine sehr hagere Frau, vorn und hinten ein Brett, wie die älteren Schüler auf dem Schulhof sagten, und hatte stets stark gepuderte Wangen, was sehr ungewöhnlich war und worüber auch die Erwachsenen in der Stadt sprachen. Man vermutete, sie habe eine unreine Haut oder eine Krankheit, Genaues wusste keiner. Wenn sie durch die Bankreihen ging und sich zu den Schülern herunterbeugte, konnten wir den süßlichen Duft des Puders riechen.
Fräulein Nitzschke ging mit dem Neuen nach vorn zum Lehrertisch, setzte sich und wartete, bis Ruhe eingetreten war und alle zu ihr schauten oder vielmehr zu dem Jungen, der neben ihr stand und finster vor sich hin starrte.
»Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen«, sagte Fräulein Nitzschke endlich, »er wird sich uns selbst vorstellen.« Sie sah den Jungen aufmunternd an. Der blickte unbewegt in die Klasse und musterte uns eindringlich.
»Sag uns bitte deinen Namen. «
Der Neue warf einen kurzen Blick zu der Lehrerin, dann murmelte er etwas, ohne jemanden anzusehen.
Die Klasse wurde jetzt unruhig. Er hatte seinen Namen so beiläufig und leise gesagt, dass ihn kaum einer verstand. Einer von uns schrie: »Lauter!«, und andere lachten. Was wir sofort begriffen hatten, war, dass er einen dieser rauhen, ostdeutschen Dialekte sprach. Alle hatten sofort mitbekommen, dass wieder ein aus Pommern oder Schlesien Vertriebener in unsere Schule gekommen war.
Unmittelbar nach dem Krieg war die Stadt mit ihnen überfüllt. Sie waren in Wohnungen eingewiesen worden, deren Besitzer nur unter dem Druck der städtischen Verordnung und der Polizei ein oder zwei Zimmer ausgeräumt hatten, um sie den Fremden widerwillig zu überlassen. Alle hofften, dass diese aus ihrer Heimat Vertriebenen bald weiterziehen würden oder vom Wohnungsamt eine eigene Wohnung zugewiesen bekämen. Wenn auch die Stadt vom Krieg und von den Bombern weniger heimgesucht worden war als die Kreisstadt und drei von den Dörfern in der Nähe, so gab es noch immer Kriegsschäden zu reparieren, und weder die Stadt noch die Leute hatten das Geld, neue Häuser zu bauen. Da es überdies an Baumaterial fehlte, wurden selbst die notwendigsten Reparaturen sehr schleppend ausgeführt. Jetzt, fünf Jahre nach dem Krieg, wohnten noch immer viele Umsiedler bei uns und schienen in Guldenberg bleiben zu wollen, zumal die neue Grenze im Osten wohl endgültig war und damit die deutschen Provinzen hinter der Oder polnisch bleiben würden und diese Leute nie wieder in ihre Heimat zurück kehren könnten. Auch in unserer Schule gab es genügend Kinder der Vertriebenen. Die meisten von ihnen sprachen inzwischen unseren Dialekt, und nur gelegentlich konnte man an einem ungewöhnlichen und befremdlichen Wort ihre Herkunft erraten oder weil sie die Rachenlaute heiserer als wir aussprachen. Sie waren allesamt ärmlicher gekleidet als die Kinder der Einheimischen, ihre Strümpfe und Joppen waren geflickt, runde Lederstücke waren nicht nur auf den Ellbogen angebracht, und vor allem ihr Schuhwerk war alt und rissig. »Ja, Bernhard Haber«, sagte Fräulein Nitzschke ungerührt von dem Lärm in der Klasse. Sie sprach den Namen deutlich und betont aus und sagte dann zu dem Neuen: »In der Pause kommst du zu mir, Bernhard, damit ich dich in das Klassenbuch eintragen kann. So, und nun geh und setz dich.«
Bernhard Haber hob den Kopf und ließ seinen Blick über die Bänke gleiten. Auch andere Schüler drehten sich um und vergewisserten sich dessen, was sie ohnehin wussten: alle Klappstühle waren besetzt, es gab keinen einzigen leeren Platz. Als die Lehrerin es bemerkte, stand sie auf und schob ihren Stuhl an die schmale Seite des Lehrertisches.
»Setz dich auf meinen Stuhl, Bernhard. Das werden wir in der Pause regeln. Der Hausmeister wird dir einen Tisch und einen Stuhl geben.«
Sie wandte sich an die Klasse: »Bernhard ist ein Jahr älter als ihr. Er kommt aus Polen und konnte in den letzten Jahren nur unregelmäßig eine Schule besuchen. So hat er einiges versäumt, und ich denke, es ist besser, er kommt in das dritte Schuljahr, jedenfalls vorläufig. Wir werden sehen, was er weiß, und ich denke, ihr werdet ihn alle nach besten Kräften unterstützen.«
»Ein Polacke«, sagte ein Junge aus einer der hinteren Reihen halblaut.
Der Neue war zu dem Stuhl gegangen, den ihm die Lehrerin hingeschoben hatte, er drehte sich zur Klasse und, ohne den Arm zu heben, ballte er eine Faust und hielt sie einen Moment vor seinem Bauch, während er zu uns sah und mit den Augen nach dem Jungen suchte, der die Bemerkung gemacht hatte.
»Das war sehr, sehr hässlich«, sagte Fräulein Nitzschke, »und ich will dieses dumme Wort nie wieder hören. Nie wieder! Habt ihr verstanden? Und Bernhard ist kein Pole, er ist ein Deutscher genauso wie ihr.«
Nach der Hofpause war ein zusätzlicher Stuhl ins Klassenzimmer gestellt worden, der neue Mitschüler musste sich an eine Bank in der ersten Reihe setzen, die beiden Mädchen an diesem Tisch rückten zusammen, um ihm Platz zu machen.
Als Herr Voigt, der Mathematiklehrer, in die Klasse kam, standen alle auf und warteten, bis er nach vorn gegangen war, die Schüler begrüßt und sich gesetzt hatte, bevor sie die beweglichen Sitzbänke laut knallend zurückschnappen ließen und wieder Platz nahmen. Herr Voigt ließ seinen Blick langsam durch die Klasse gleiten, er wirkte dann stets wie ein Greifvogel auf der Suche nach einer Beute. Als er den neuen Schüler bemerkte, betrachtete er ihn amüsiert von oben bis unten. »Ein Neuer«, stellte er höhnisch fest. »Und wie heißt du?« Ohne die Antwort abzuwarten, schlug er das Klassenbuch auf und las die dort eingetragenen Bemerkungen über Bernhard Haber laut vor.
»Du bist schon zehn Jahre alt, sososo. Na, wenn man dich in die dritte Klasse steckt, wird es mit deinen Rechenkünsten nicht weit her sein, oder?«
Die ganze Klasse amüsierte sich. Der neue Schüler hatte seine Hände auf das Pult gelegt, sah vor sich hin und erwiderte nichts.
»Steh auf, wenn ich mit dir rede. Und sieh mich an. Bist du mit deinen Eltern hierher gekommen?«
»Ja.«
»Na, wenigstens kein Waisenknabe. Mit denen haben wir ja nichts als Ärger. Hat deine Familie eine Wohnung? Ein Zimmer?«
»Ja.« »Schön. Und hat dein Vater Arbeit?«
»Nein. Noch nicht.«
»Da lebt ihr also auf Kosten der Stadt. Was hat dein Vater für einen Beruf?«
»Er ist Tischler.«
»Gut. Tischler, das ist gut. Wenn er zupacken kann und nicht gerade zwei linke Hände hat, wird er schnell etwas finden. Tischler werden gebraucht.«
Er machte eine kleine Pause und fuhr dann mit bösem Lächeln fort: »Oder arbeitet er nicht gerne, dein Vater? Das gibts ja auch.«
Der Neue stand mit hängendem Kopf an der Bank, mit beiden Händen hielt er die schräge Schreibfläche umklammert. Er war hochrot im Gesicht, als er erwiderte: »Nein. Mein Vater hat nicht zwei linke Hände. Er hat eine linke Hand.«
»Und woher kommt ihr? Wo bist du geboren, Junge?«
»In Breslau.«
»Was sagst du?«
Herr Voigt starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dann hielt er eine Hand an sein rechtes Ohr und sagte nochmals: »Was hast du gesagt?«
»Wir kommen aus Breslau.«
Herr Voigt schüttelte den Kopf und sah empört und fassungslos in die Klasse. Dann streckte er die Hand aus und zeigte auf ein Mädchen: »Kathrin, wie heißt die Stadt, aus der der Neue kommt?«
»Wroclaw«, sagte das Mädchen, wobei sie sich kurz erhob, so dass der Klappsitz zurückschnellte.
Herr Voigt nickte zufrieden. Dann wandte er sich wieder an den neuen Schüler: »Oder meinst du, in Italien leben heute die Römer? Nein, die Italiener. Merk dir das. Und Istanbul, das nennt ihr in Hinterpommern wohl noch immer Konstantinopel oder Byzanz, wie? Und du kommst aus Wroclaw. Hast du das verstanden?«
Bernhard Haber sah Herrn Voigt unverwandt in die Augen. Er war völlig reglos.
»Also, noch einmal. Wo kommst du her?«
»Aus Wroclaw.«
»Richtig. Setz dich endlich hin. Wir wollen mit dem Unterricht beginnen.«
Bernhard Haber blieb trotzig neben seinem Stuhl stehen. Bevor er sich hinsetzte, sagte er rasch: »Aber geboren wurde ich in Breslau.«
Herr Voigt hatte sich umgedreht, um etwas an die Wandtafel zu schreiben. Die ausgestreckte Hand mit dem Kreidestück sank langsam herunter. Wie in Zeitlupe drehte er seinen Oberkörper herum und sah den Neuen an. Er schien völlig überrascht zu sein, und für einen Moment glaubten wir alle, er würde anfangen zu brüllen. Er verzog verächtlich den Mund und lächelte Bernhard bedrohlich an.
»Ach was«, sagte er schließlich, und es klang fast anerkennend, »so einer bist du. Aber ich werde dir die Flötentöne noch beibringen, mein lieber Herr Gesangsverein.«
Er wandte sich wieder zur Tafel und schrieb aus dem aufgeschlagenen Buch, das er in der Hand hielt, Rechenaufgaben an das dunkelgraue, verschrammte Brett. Bernhard Haber blickte sich aufmerksam in der Klasse um, er wollte wohl sehen, wie seine neuen Mitschüler auf die Auseinandersetzung mit dem Mathematiklehrer reagierten. Es schien, als wolle er sich unsere Gesichter genauestens einprägen. Für einen Moment schauten wir alle zu ihm, und sekundenlang starrten wir uns bewegungslos an, während Herr Voigt die Aufgaben an die Tafel schrieb und dabei halblaut vor sich hin sprach.
Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf /Schlesien, hat seine Kindheit in Bad Düben bei Leipzig verlebt. Da ihm als Pfarrerssohn in der DDR die Abiturstufe verwehrt war, besuchte er ab 1958 ein Gymnasium in Westberlin. 1960 ging er in die DDR zurück, war Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, betätigte sich als Journalist, als Schauspieler (in Nebenrollen) und als Regieassistent, bevor er Philosophie und Logik in Leipzig und Berlin studierte. Als Dramaturg und später auch als Autor kam er zur Volksbühne. Seit 1979 ist Christoph Hein freiberuflicher Schriftsteller.
Zu seinem umfangreichen dramatischen Werk gehören Stücke wie »Cromwell«, »Die wahre Geschichte des Ah Q«, »Die Ritter der Tafelrunde«, »Randow«, »Himmel auf Erden«. Als Prosaautor erregte er Aufsehen mit der Novelle »Der fremde Freund« (1982), später mit den Romanen »Horns Ende«, »Der Tangospieler«, »Das Napoleonspiel«, »Von allem Anfang an«. Bekannt ist er nicht zuletzt auch als Essayist. Wie soeben vermeldet, wird Christoph Heins zuletzt bei Suhrkamp publizierter Roman »Willenbrock« (2000) von Andreas Dresen verfilmt.
Der hier erstveröffentlichte Text gehört zu einem neuen Buch, das Ende Januar bei Suhrkamp erscheint. Im Mittelpunkt steht Bernhard Haber, der 1950 als Zehnjähriger in die sächsische Kleinstadt Guldenberg kommt. Guldenberg - da wird der Leser an ein früheres Werk Christoph Heins erinnert: »Horns Ende« von 1985. So viel sei schon verraten: Wie in jenem Buch treten auch hier mehrere Ich-Erzähler auf. Aus verschiedenen Perspektiven wird ein Lebensweg beleuchtet, erhält man Einblicke in 50 Jahre deutscher Geschichte. Horn und Haber - sie haben freilich nichts gemein. Der eine hat sich in der DDR das Leben genommen, der andere ...
»Landnahme« ist der Titel des Romans, der über 350 Seiten spannende, nachdenklich machende Lektüre verspricht.
I.G.
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