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  • Kultur
  • Staatsopern-Ballettpremiere in der Berliner Parochialkirche: Drei „Wozzeck-Reflexe“

Wahnsinn hoch drei

  • Lesedauer: 3 Min.

Die jüngste Ballettpremiere der Berliner Staatsoper Unter den Linden fand aushäusig statt: unter den Backsteinbögen und dem hölzernen Dachgebälk der Parochialkirche. Das erste der drei Ballette „Wozzeck-Reflexe“ paßt sich dieser zeitlos schönen Umgebung fast zu sehr an: „Sechs Tänze“, choreographiert von dem Berliner Nachwuchstalent Helge Musial zur Lyrischen Suite (1926) von Alban Berg, musiziert vom Auryn-Quartett, zeigen spielerische, aber beliebige Variationen des Geschlechterkampfes. Doch nur eine der sechs Szenen lockt das Publikum aus der Reserve, das „Adagio appassionato“ mit Undine Hegener und Dietmar Jacob, die in den klassischen Kostümen von Wozzeck und Marie auf furiose Art Zärtlichkeit und Zerstörung tanzen. Der Choreograph sitzt all die Zeit im Bühnengrund, um zuletzt solistisch isoliert in die Rolle des Wozzeck zu schlüpfen. Schmerzgekrümmter Körper und Pirouetten auf der Stelle bilden den Kontrapunkt zu dem technisch sauberen Pas de Deux von Danijela Poeplau und Steffen Neumann. Dennoch hat man den Eindruck, der Choreograph

bleibt hinter den Möglichkeiten der Tänzer zurück.

Ganz anders in „Maries Zimmer“ von Maryse Delente. Sie hat für Mario Perricone, den von Visionen geplagten Wozzeck, ein tänzerisches Szenario entworfen, das ihn zum Star des Abends werden läßt. In schnellen, slapstickartigen Läufen wird deutlich, wer Wozzeck hier ist: ein weicher, sensibler Mensch, der seiner Angst hilflos ausgeliefert ist. Flucht vor der und Flucht in die Gedankenwelt: Ein Eumenidenchor von sieben Maries, allen voran Brit Rodemund, folgt ihm, bietet abwechselnd Trost und quält ihn, Erinnerungen und Alptraum vermischen sich. Das getanzte Psychogramm ist akustisch bebildert mit Musik von Richard Wagner. Die „Sonate für Klavier B- Dur“ ist ein frühes Übungsstück. Wären da nicht die rauschenden tiefen Tonlagen, würde man glauben, es handle sich um eine Collage aus Mozart, Beethoven und Schumann. Die Heiterkeit des Leitmotivs schlägt um in Me-

lancholie und Ironie. Perricone absorbiert die Stilwechsel wie Gemütsveränderungen. Fröhliche Verrücktheit führt zu abgrundtiefer Verzweiflung, und der Wahn wird von Momenten der Klarheit durchbrochen. Doch einen Geist kann man nicht abstechen, und genau das versucht Wozzeck. Immer wieder - die Bewegungen verlangsamen sich von Mal zu Mal bis zur Zeitlupe - ersticht er seine Marie mit einem unsichtbaren Messer, aber der Schatten entzieht sich ihm und bedrängt ihn aufs neue: Wozzeck wird wieder und wieder zum Mörder aus Not. Bravo-Rufe und Fußgetrappel für Tänzer, Choreographin und den Pianisten Peter Hartwig sind wohlverdient.

Der Mörder kehrt an den Tatort zurück. Das visionäre Element setzt sich in „Marie, er und ich“ fort. Die dazu gehörige Komposition „Gesprungene Glocken“ von Matthias Pintscher ist ein Auftragswerk, dessen dunkle Streicher und aufgeregte Bläser manchmal wie ein plattgebügelter Schön-

berg klingen, dessen elegante Einarbeitung von Text (Sprecher: Michael Denard und Henno Garduhn) und heulendem Sopran (Brigitte Eisenfeld) aber besticht. Auch hier tanzt Mario Perricone die tragende Partie des „ich“, das noch rückwärts den Weg zur im Holzblock steckenden Axt findet. Ein ausdrucksstarker und technisch brillanter Tänzer Raffinierte Ensemblekonstellationen des finnischen Choreographen Jorma Uotinen verzwölffachen das Paar Wozzeck-Marie, und Texte von Rimbaud, Jean Paul und aus der biblischen Apokalypse zitieren die Katastrophe. Während der auf der Leiter stehende Denard das „zornige Blutauge des Mars“ beschwört und zu Beginn und am Schluß eindringlich das Antimärchen aus Büchners „Woyzeck“ erzählt, steigert sich auf der Bühne die Spannung bis ins Unerträgliche. „Und der Mond ward wie Blut“ Gewitterartige Trommelwirbel geleiten Wozzeck ins Delirium. Wahnsinn hoch drei - die „Wozzeck-Reflexe“ sind ein großer moderner Ballettabend.

GISELA SONNENBURG

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