- Kultur
- STALINS UNGELIEBTES KIND
Warum Moskau die DDR nicht wollte
land, seine Deutschlandpolitik folgte pragmatischen Zwängen, wies durchaus Gespür für Realitäten auf, Sicherheitsund Reparationsinteressen überlagerten ideologische Doktrinen.
Zweifellos enthält Loths Buch genügend Zündstoff für Diskussionen. Indes, die ursprüngliche Aufregung liegt wohl an den harschen Vorwürfen gegen den nach der „Wiedervereinigung“ erneut als sakrosankt erklärten Begründer des „freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates“, Konrad Adenauer, sowie die Westmächte, deren „schützende Truppen“ man jetzt würdevoll zu verabschieden hat, vor allem, wenn man aus der Rolle des Juniorpartners in die Phalanx der gleichberechtigten Konkurrenten nicht nur in Europa aufstrebt. Loth begeht das Sakrileg, Adenauer und die Westmächte für die Spaltung Deutschlands verantwortlich zu machen und ihnen anzukreiden, auch die reelle Chance der Wiedervereinigung Anfang der 50er Jahre, die nahezu flehentlich von Stalin in diversen Noten offeriert wurde, vereitelt zu haben. Er klagt „westliche Politiker und Meinungsmacher“ an, daß sie „nicht annähernd soviel Anstrengung auf die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung
Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte. Rowohlt Verlag, Berlin 1994. 285 S.. 36 DM.
wie auf die Organisation der westlichen Gemeinschaft“ konzentrierten (eine Feststellung von erneuter Aktualität). Damit liegt Loth freilich quer zum Mainstream bundesdeutscher Geschichtspropaganda, für die sich mit 1989/90 bestätigte, daß es zur Politik der Westintegration keine Alternative gegeben habe.
Der Essener Historiker beschuldigt die Westdeutschen gemeinhin, ihnen sei nach 1945 das Hemd näher als der Rock gewesen, darum hätten sie Adenauers und Schumachers Kurs sanktioniert, und kommt zu dem Fazit: „Die Geschichte der Entstehung der DDR ist darum zugleich auch die Geschichte einer heimlichen Dekomposition der deutschen Nation. Von den Deutschen in der sowjetischen Zone, die Opfer dieser Entwicklung wurden, ist dies gelegentlich mit Bitterkeit registriert worden. Die Westdeutschen aber verdrängten es, in dem sie sich den Gründungsmythos von der Verteidigung der Freiheit gegen die bolschewistische Gefahr zurechtlegten. Die Be-
wältigung der Probleme des nach dem Ende der DDR vereinigten Deutschlands wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, aus diesem Mythos herauszutreten.“ Allein ob dieser Aussage ist zu hoffen, daß das Buch in viele Hände gerät.
Sicher, manche Wertung und Kommentierung der vom Autor präsentierten neuen, im ehemaligen SED-Parteiarchiv aufgefundenen Dokumente wären zu diskutieren. Daß sowieso aus SED-Akten nicht der Weisheit letzter Schluß zu ziehen ist, ebenso nicht aus den Memoiren von Ex-Sowjet-Diplomaten oder Ex-KGB-Leuten, weiß Loth, der übrigens unlängst auch mit dem ehemaligen DDR-Historiker Rolf Badstübner einen Band mit Pieck-Notizen zur Deutschlandpolitik herausbrachte. Der Essener merkt an, wo noch Fragen offenbleiben, wie z.B. hinsichtlich „Berijas Revision“ 1953.
Ein recht definitives Bild hat er aber schon von Ulbricht. Und in vielem ist es sicher treffend gezeichnet. Allerdings scheint es etwas schief zu geraten, wenn Ulbricht (und Genossen) quasi angelastet wird, um die auf Grund der internationalen Konstellationen gegebene Chance einer - wie auch immer dann gearteten oder
entarteten - antikapitalistischen Alternative auf deutschem Boden gekämpft zu haben. „Revolutionsphantasien“ und „klassenkämpferischer Amoklauf sind ungeeignete Begriffe, um den - vor allem auch aus der Erfahrung mit dem vom deutschen Kapitalismus hervorgebrachten Faschismus gespeisten - Versuch zu beschreiben. Einspruch dürfte auch die Überschätzung der Spielräume gegenüber Moskau hervorrufen. Loth selbst verweist auf das Dilemma, daß SED-Politiker auf Weisung Moskaus verkündete Losungen dann wieder auf Weisung Moskaus dementieren mußten und manchen politischen salto mortale vollbrachten. Selbstredend kann man die jeweiligen DDR-Regierungen nicht als Marionetten in den Händen Moskaus bezeichnen, ebenso aber auch nicht ignorieren, daß im Alleingang in Ostberlin nichts zu machen war und schon gar nicht ein ungewollter Staat am Leben erhalten werden konnte, was ja denn auch die jüngste Vergangenheit prägnant bezeugte...
Dennoch: Loths Buch gehört zu den informativsten und spannendsten Publikationen jüngster Zeit zur DDR-Geschichte.
KARLEN VESPER
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.