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  • Kultur
  • HANNS CIBULKA: „Am Brückenwehr“

Morgengefühl abends?

Vnn HANS-DIETER SCHUTT

  • Lesedauer: 3 Min.

„Wie oft hatte der Bundeskanzler vor der Wende noch von den Brüdern und Schwestern im Osten gesprochen, heute erinnern wir uns, daß auch Kain und Abel Brüder waren. Wahrhaftig, wir leben in einer gnadenlosen Zeit. Deutschland in Atemnot.“

Wenn ein Dichter wie der Gothaer Hanns Cibulka solche Worte schreibt, ist das nicht aktuell-politische Attitüde, sondern wird eingebunden in weiträumiges Nachdenken über Welt und Mensch. Cibulka ist ein leiser Mahner, ein schauender Spaziergänger; die Zwiesprache mit Natur und Kunst War“ stets sein eige'htli-“ che.s Zuhause. Nun, „Am-.Bf ükkenwehr“ seiner Heimatstadt' 1 Jägerndorf, im Mährisch-Schlesischen, besinnt er sich der Zeit zwischen Kindheit und Wende. Wissend: „Erst im Alter werden die Erlebnisganzheiten durchsichtig“

Lichtschwalben. Lebensbaum. Arioso. Rebstock. Seedorn. Sanddornzeit. Wegscheide. Einige Titel von Cibulkas Lyrik- und Tagebuchbänden; wie“ Wimpernschläge, dann wieder griffig, erdnah. Dieser behutsame Mensch lebt gesetzt, dennoch fragend in der eigenen Biographie. Wie wenig braucht man, um glücklich zu sein. Auch Cibulkas jüngstes. Tagebuch streift wieder Genregrenzen, Phantasie blinkt auf, Träume durchschimmern einander, Reflexion weitet sich zum Ansatz einer Erzählung - und doch verläßt der Gedanke nie vollends den Bannkreis essayistischer Selbstbetrachtung.

Im Grunde schreibt Hanns Cibulka seit jeher am immergleichen Buch, einem Poesiealbum der bewußten wie sehnsuchtsvollen Mäßigung. Harmonie ist ihm ein Grundwort, alle Farben des Spektrums

Hanns Cibulka: Am Brükkenwehr - Zwischen Kindheit und Wende. Tagebucherzählung. Reclam Verlag Leipzig. 114 S., brosch., 16 DM.

sind gerecht verteilt, die Sinnlichkeit öffnet sich der Silberdistel bereitwilliger als exotisch anmutender Buntheit.

Idealisch gesonnen setzt dieser Dichter seine Schritte. Sein Weltbild nach dem Zusammenbruch der DDR ist wohl kaum ins Wanken gekommen. Durchdringender freilich

scheint mir seine Trauer. Als se^a.uch Cfi.e.Zeit wie ,dje, Erde, eine Kugel, und eine unheilvolle,, Krürnniiing ,lenke,i alle, Bahnen unaufhaltsam in die Irre. Als sei so jede Bewegung, die uns von einem Punkt entfernt, gleichzeitig doch wieder Beginn der Annäherung - an eben diesen Punkt. Jede wahrnehmbare Bewegung der Geschichte führt demnach lediglich an ihre bitteren Ausgänge. In solcher Perspektive fehlt Zukunft. Freiheit drückt sich aus durch eigenartige Zuckungen der Identitätssuche. Was beim Zusammenbruch der Imperien als Verschwinden gefeiert wurde, erweist sich als Metamorphose. Der Spiegel der alten Welt ist zerbrochen, aber jeder Splitter davon bewahrt das ganze Bild.

So lese ich dieses Bändchen mit seinem ungebremsten Bekenntnis zum reinen Wort, zum Urbild des guten Menschen, der sich in den Zeitläuften aufgerieben hat. Hanns Cibulka ist auf der Suche nach dem Morgengefühl, aber es ist abends. Ihm genügt der Weg hinüber in den Stadtpark, um aufzuschreiben: „Wir sind das Vergangene und haben doch keine Zukunft, wir sind das Werdende und können doch nicht in ihm wohnen.“

Neulich, in einem Gespräch, gestand er ein, es falle ihm schwerer, über sich selbst zu schreiben als über Mathilde Jacob, die Vertraute Rosa Luxemburgs (in: „Meine liebste Mathilde“, jüngst neu aufgelegt!), oder über Sally Epstein, den die Nazis 1935 hingerichtet haben (in „Der arme Epstein“, 1993). Er meinte: „Plötzlich habe ich den Eindruck: Ich habe ja doch nichts erlebt, verglichen mit anderen Schicksalen.“

Nun liegt dieses autobiographische Buch „Nase im Wind“ vor, und Mühe, gar Krampfiges, Gequälte*s, merkt man ihm nicht an. Die am Feuilleton und Aphorismus geschulte Leichtigkeit der Texte Knoblochs prägt auch dieses Buch. Und

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