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  • Kultur
  • Das Berliner „Tacheles“ zeigt Herz und Seele, die Behörden bleiben geistlos

Kunsthaus-Krise: Intrigen-Senat am Pranger

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  • Lesedauer: 6 Min.

Objekt „Geweih“ von Michaela Ullrich

Foto: Jan Henselder

Die aktuelle Ausstellung im Berliner Kunst- und Kulturzentrum Tacheles beschwört die Einheit von Herz, Geist, Seele - alle drei menschlich wesentlichen guten Dinge sind mit dem japanischen Titel „kokoro“ bezeichnet. 100 Meisterwerke junger Künstler (u. a. aus Polen, Australien, der Türkei) deuten noch bis zum 21. August auf die Situation der einmaligen, pro Wochenende bis zu 6 000 Touristen anlokkenden Institution: man ist, wieder mal, bedroht. „Wir sind der Stachel im Fleisch“, sagt Kuratorin Susanne Immekeppel. Daß sie recht hat, beweist die jüngste Intrige der Oberfinanzdirektion (OFD).

Das Tacheles-Grundstück zwischen Oranienburger und Friedrichstraße gehört je zur Hälfte Bund und Land. Der Tacheles-kooperative potentielle Investor Fundus aus Köln, auch bei den Berliner Friedrichstadtpassagen zugange, läuft Gefahr, von einem 200 Millionen Mark (90 Millionen mehr als Fundus) bietenden Geldhai ausgebootet zu werden. Zwar liegt seit März das fundierte Fundus-Konzept vor, zum Verkauf an den sanierungspotenten Retter kam es bisher aber nicht. Das stimmte schon mal skeptisch. Im Juni schrieb die OFD das benachbarte „Johannlshof-Grundstück neu aus. Klammheimlicher Dreh: den Bestbietern wird Eintrittsrecht ins Höchstgebot der angrenzenden Flächen, die dem Bund gehören, eingeräumt. Das Tacheles ist in Gefahr - denn der Favorit der OFD ist kein Kunstfreund. Er läßt das daran erkennen, daß sich der Ersteigerer nicht bei den Kulturarbeitern meldete. Vermutlich ist er nur auf die Immobilie aus. Es wäre ein Unfall, ein tödlicher zumindest den Zivilisationsmaßstäben nach, das intakte Zentrum ohne Absprache mit den dort Schaffenden zu verscherbeln. Kunst auf dem Sklavenmarkt?

Die OFD hat „keine eigenen Interessen“ außer „vernünftiger Grundstücksverwertung“, wie OFD-Mitarbeiter Jochen Kallabis formuliert. Sprich: Verkauf zu möglichst hohem Preis. Obwohl Bund und Land hier gemeinsamen Besitzstand veräußern wollen, ist der Informationsaustausch zäh - das

bestätigen beide Seiten. „Recht unbefriedigend“ sei das Ganze bisher verlaufen, sagt Kallabis und vermutet „senatsinterne Querelen“. Schließlich sind mit Bau- und Kultursenat gleich zwei ländervertretende Berlin-Instanzen am Gerangel ums Tacheles beteiligt. Dagegen wirken die Restitutionsansprüche möglicher Alteigentümer noch angenehm. Wer eigentumsberechtigt ist, ob Stadt oder Staat, ist strittig. Immerhin existiert eine gesetzliche Klausel zur „Beschleunigung“, von der bislang nur niemand Gebrauch machte.

Andererseits versäumte es die OFD, dem Senat für Kulturelle Angelegenheiten den akuten Stand der Bewerbungen mitzuteilen. Bernd Mehlitz, Abteilungsleiter der Kulturverwaltung, fragte schriftlich nach. Nur ein Zwischenbericht, aus dem keine Information über die bereits angepeilte Entscheidung hervorgeht, kam als Antwort. Doch der Zuschlag soll schon Ende dieses Monats erteilt werden, die Vorentscheidung ist bereits gefallen. Ein alter Bumerang: Skanska, schwedischer Immobilien-Riese und abgesprungen geglaubter Erstinteressent für das Tacheles, habe die neuen Bewerber beraten, sagt Kallabis. Der „europäische Investor“ liege mit seinem Angebot vorn. Trostpflaster: „Fundus ist noch nicht aus dem Rennen.“ Dort

wiederum bleibt man gelassen. Dr. Uwe Schuricht vom Fundus-Marketingbüro hofft, daß die bereits en detail besprochene Sanierung - in Teilabstufungen - und die Erhaltung des Kulturforums - mit Staffelmietvertrag - wie geplant laufen kann: „Für uns eine interessante Aufgabe.“ Doch vorher müssen Bund und Land an Fundus verkaufen. Das Tacheles-Projekt, sagt Schuricht, sei „nicht mit dem Rechenschieber“ gedacht, sondern „es steckt Herzblut von uns drin.“ Und: „Wir sind nach wie vor in der Diskussion, haben ein Angebot gemacht und Rückendeckung vom Senat und dem Tacheles selbst.“ Der Wunsch-Investor zeigt Geduld. Dazu hat er Grund: Skanska, dessen ursprünglicher Plan Aufkauf, Räumung und erst dann Sanierung vorsah, mußte sich schon einmal aufgrund mangelhafter Finanzierungspläne zurückziehen. Zum Glück für die Tacheles-Häusler, denen sonst Zwangsumsiedlung bzw. die Auflösung gedroht hätte.

Die Lorbeeren der ersten Errettung steckt sich der Kultursenat ans Revers. Ulrich Roloff-Momin versprach öffentlich, das Tacheles an seinem Standort zu erhalten. Für die optimale Lösung - den Bund-Anteil aufzukaufen und dann an Fundus zu vergeben - ist aber kein Geld da. Die Ruhe der Kulturverwaltung mutet merkwürdig

an: „Ich habe überhaupt keine Befürchtungen“, sagt Mehlitz, der vom Parlament und Kultursenator zum Erhalt des Tacheles beauftragt wurde. Sonst nichts? Irgendwie sieht es so aus, als wolle Roloff-Momin das Objekt Tacheles dem Senatskollegen Wolfgang Nagel vom Bauressort - und damit den Immo-Haien - zuschieben. Freilich ohne selbst schuldig zu werden. Seit der Ermordung des Schiller Theaters sind wir gewarnt; wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, mit welcher Kampfuntauglichkeit. „Wir warten nüchtern ab“, kommentiert Mehlitz. Bis es zu spät ist?

„Formell hat sich hier noch keiner vom Land Berlin beschwert“, sagt OFD-Kallabis. Letztlich dient das Hickhack vor allem einem: dem armen deutschen Staat, der um jede Million im Namen der Steuerzahler ringt. Durch das Hochputschen der Quadratmeterpreise im Viertel, durch die lancierte Versteigerung des „Johannishofs“ erzielt man neue Marktwerte. Mit einer Gesamtbebauung des Geländes, soweit es der Tacheles-Denkmalschutz zuläßt, wäre sogar noch ein Bausenator Nagel einverstanden. Senat gegen Senat, so nimmt man dem Gegner die Arbeit ab, Der Gegner hier ist und bleibt der von der OFD bevorzugte, Skanska-involvierte Investor. Don Behörden und

Immobilianten scheinen Herz, Hirn, Geist und Seele von Raffgier blockiert. Entsprechend stehen am Eingang des Tacheles hölzerne Prangerbretter von Paul Vorbruch. Da das Joch Genickbruchgefahr birgt, ist es nicht auszuprobieren. Angeprangert gehören hier eh andere als die Kunstbesucher, soviel steht fest. Apropos Heuchelei: als Grund für die Verzögerung der Fundus-Pläne hannten Senatens die durch genehmigtes Baurecht gesicherte Skanska-Option. Daß der Bluff-Investor noch im Mitsteigern begriffen war, wurde sorgsam verschwiegen. Skanska galt als Vorwand. Das ist unerträglich.

Vorwände hat „kokoro“ nicht nötig. Über 30 Künstler binden die geistigen Wertigkeiten, an denen es den Ämtern fehlt, in figurale Werke. Objekte, Bilder, Skulpturen bilden ein Aktiv-Museum. Blickfang ist der Theatersaal: von Design-Heizkörpern, in Harfen- und Fächerformat im Raum schwebend (made by Arne Groh), bis zur eisernen vagina dentata von Michaela Ullrich lauert Kunstattacke. Den Exponaten ist eine gewisse Aggressivität eigen: in stahlfetten Spinnen, der zur Trauerorgel gewandelten Jukebox namens „Elvis“ und in dem auf Fingertip wie Scharfrichters Beil schwingenden Pendel erblickt man Metaphern der Kunsthaus-Krise. „Rapunzel“ von Dafna Ganana läßt Haar herunter: dem Unterleib wächst statt Schamdreieck ein Pferdeschwanz. Fluxus-Ironie „Ich liebe dich“ passiert zwischen ausrangierten Fernsehern, „Nur Schrec!“, der Österreich-Import, der uns schon 1993 Spaß machte, erklärt die stinkende Toilette zum modernistischen Wohnzimmer. Künstlers Kunstklo. Zum Träumen! Und zum Hoffen, der Tacheles-Blindverkauf bliebe ein böser Alp. Mit „kokoro“ leiten Susanne Immekeppel aus Gera und die Wienerin Elke Rauth die erste ostdeutsch-österreichisch-schweizerische Koproduktion im Tacheles. Uli Hirzl (letztes Jahr Initiator chilenischen Zelt-Theaters) spendete zwar Franken, dennoch war der 2 OOO-Mark-Etat nicht eben hoch. Umso erstaunlicher, daß die Kunst wirkt.

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