Hohe Absätze, tiefe Enttäuschungen

Von Silvia Ottow

  • Lesedauer: 4 Min.
Wer wie Prof. Dr. Renate Baumgarten von 1956 bis 1962 in Berlin (Ost) Medizin studierte, kann an der Charité im Hörsaal der Pathologie durchaus dem Saaldiener Niels begegnet sein. »Das Faktotum« nennt die einstige Medizinstudentin und spätere Professorin den hageren Mann mit dem korrekten Scheitel, der in ebenso korrekter Haltung die in Spiritus verewigten Menschenreste zur gefälligen Anschauung in den Saal trug: »Auch das ist ein Stück Kultur, das wir verloren haben.« Diesem Resümee ähneln einige der Medizinerin aus drei Jahrzehnten ihres Wirkens als Chefärztin in Ost und West - sei es, wenn sie den verloren gegangenen Respekt unter den Medizinern in den alten Bundesländern beklagt, die mangelnde Bescheidenheit im Umgang mit den eigenen Verdiensten oder die Abschaffung von nützlichen Ausbildungsbestandteilen. Renate Baumgarten hat eine bemerkenswerte medizinische Karriere hingelegt, mit außerordentlichem persönlichen Einsatz und unter teilweise widrigen Bedingungen. Ein Medizinstudium ohne Computer und Internet? Unvorstellbar, aber Baumgarten und Co. hatten nicht einmal Lehrbücher! Abenteuerlich, wenn man die Vorbereitung einer Doktorarbeit vor allem mit der Suche nach Gallensaft verbringen muss und fast unzumutbar, für die ärztliche Probezeit im Rüdersdorfer Krankenhaus monatelang um drei Uhr in der Nacht aufstehen zu müssen. Und das war ja noch nicht alles! Neben dem permanenten Mangel an vielem, was man zur medizinischen Forschung und Behandlung benötigt, gab es ja in der DDR auch ein Überangebot, welches manchem Menschen lästig werden konnte - die ideologischen Barrieren, gesetzt von einer machthabenden Partei, die für Renate Baumgarten in ihren Grundzügen »akademikerfeindlich« war. Die Qualität des DDR-Gesundheitswesens, so schreibt sie, entsprach nicht seinem moralischen Anspruch. Auch die Gleichberechtigung der Frau ließ oft zu wünschen übrig, trotz aller Postulate. Das Leben und die darin amtierenden Männer scherten sich einfach nicht darum. Folgerichtig steckte man auf führenden Positionen in Politik und Wirtschaft in Hosenbeinen. Renate Baumgarten, die kleine, zähe Person auf den »High Heels« von damals, schaffte es ins Professorenkollegium des Fernsehens und in beachtliche medizinische Gremien, aber manchmal unterlag sie auch dem männlichen Konkurrenten. Als Gipfel der Unverschämtheit muss sie eine Anhörung der Ehrenkommission des Berliner Senats im Jahr 1992 empfunden haben, die damals alle Mitarbeiter der städtisch verwalteten Krankenhäuser vor der Übernahme in den Öffentlichen Dienst auf eine Stasi-Mitarbeit überprüfte. Ein Mitarbeiter des Berliners Senats entrüstete sich über die renommierte und erfahrene Infektiologin, die in dieser Zeit am Berliner Krankenhaus Prenzlauer Berg eine Station zur Betreuung drogenabhängiger Aids-Kranker eingerichtet hatte, mit den Worten: »Wie kommen Sie zu dieser Position? Es hat doch auch in der DDR genügend befähigte Männer gegeben, die diese Aufgabe hätten erfüllen können! Dazu braucht man keine Frau! Auch wenn nichts Aktenkundiges gegen Sie vorliegt, Sie werden Ihre Dienste dafür geleistet haben.« Diese Auseinandersetzung hatte Folgen, sie arbeitete danach ohne Arbeitsvertrag, Kündigungsschutz und Chefarzt-Rechte zwei Jahre »auf Bewährung«. In der DDR, resümiert sie, hätte sie in ähnlicher Situation wohl erwogen, in den Westen zu gehen. Es ist schon erstaunlich, mit welch üblen Methoden Mitglieder eines hoch gebildeten, gut situierten und anerkannten Berufsstandes ihren Wirkungskreis nach der Wende sicherten und erweiterten. Renate Baumgarten hat durchgehalten - nicht nur, weil sie die Fähigkeiten und Kräfte dafür besaß, sondern auch, weil sie Verbündete für ihre medizinischen Anliegen traf. Schon deshalb ist sie legitimiert, die deutsche Gesundheitspolitik zu bewerten, Ost und West sowie heute und früher miteinander zu vergleichen. Man muss ihr im Großen und Ganzen sicherlich zustimmen, im Kleinen und Detaillierten nicht immer - so finden es die meisten Menschen im Vergleich zu ihr sicher besser, dass sie jederzeit ihre kranken Angehörigen in der Klinik besuchen können und nicht wie früher nur zu einer bestimmten Zeit. Mit dem Ende ihrer beruflichen Karriere beginnt anscheinend das Privatleben der Medizinerin, sie trifft den Mann ihres Lebens und heiratet ihn. Mehr erfährt der Leser nicht. Ein Leben so ganz ohne Privates, ohne jede Passion, ohne die geringsten Bezüge zu Freunden und Alltag außerhalb der Kinder- und Jugendzeit kommt einem doch irgendwie unvollständig vor. Vielleicht ist dies Thema eines nächsten Buches. Renate Baumgarten: Not macht erfinderisch. Drei Jahrzehnte Chefärztin in Ost und West. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 277S., geb., 24,90 EUR.

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