- Politik
- Ukraine
Odessa: Angriff auf die lokale Selbstverwaltung
Selenskyjs Vorgehen gegen Odessas Bürgermeister Truchanow ist eine Warnung an andere Städte
Hennadij Truchanow, seit zwölf Jahren gewählter Bürgermeister von Odessa, ist kein ukrainischer Staatsbürger mehr, nachdem Präsident Wolodymyr Selenskyj ihm am Dienstag den Pass per Dekret entzogen hat. Zuvor hatte der Inlandsgeheimdienst SBU mitgeteilt, Beweise für die russische Staatsbürgerschaft Truchanows zu haben. Eine schriftliche Begründung gibt es nicht, da der entsprechende Erlass nicht veröffentlicht wurde. Konkret soll Truchanow 2015 ein russischer Auslandsreisepass ausgestellt worden sein.
Der Vorwurf sei für ihn nicht neu, schrieb Truchanow auf Facebook. Seit 2014 habe er immer wieder erklären müssen, dass er keine russische Staatsbürgerschaft habe. Ihm sei bekannt, dass in der Öffentlichkeit Kopien seines angeblichen russischen Passes kursierten, so Truchanow. Doch dieser sei eine Fälschung.
Unterstützung erhält er von dem bulgarischen Investigativjournalisten Christo Grozev, der lange bei Bellingcat gearbeitet hatte und 2019 für seinen investigativen Journalismus den Europäischen Pressepreis erhalten hatte. Für ihn ist der angebliche russische Pass von Truchanow, der vom SBU veröffentlicht wurde, ein Fake, schreibt Grozev auf X, der Russland beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein.
Russischer Pass ist eine Fälschung
Truchanow will gegen den Entzug der Staatsbürgerschaft gerichtlich vorgehen, notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er werde weiter in Odessa bleiben. Letztlich, so vermutet Truchanow, sei ihm die Staatsbürgerschaft entzogen worden, weil klar sei, dass er auch die nächsten Wahlen gewinnen werde.
Lange wird Truchanow nicht mehr Bürgermeister von Odessa bleiben können. Laut Gesetz dürfen nur ukrainische Staatsbürger kommunale Ämter ausüben. Doch vorerst will er seine Pflichten als Bürgermeister weiter wahrnehmen. Solange der Stadtrat von Odessa nicht offiziell den Entzug der Staatsbürgerschaft zur Kenntnis genommen habe, sei er weiter in Einklang mit dem Gesetz über die Kommunalverwaltung Bürgermeister, so Truchanow.
Truchanow sieht sich weiter als Bürgermeister
Anastasia Piliavsky, Professorin für Anthropologie und Politik am Kings College in London, die ständig zwischen ihrer Heimatstadt Odessa und England pendelt, kritisiert gegenüber »nd« den Entzug der Staatsbürgerschaft Truchanows. »Die Bewohner unserer Stadt sind schockiert von diesem willkürlichen Vorgehen der Machthaber gegen den Bürgermeister. Sogar viele von denen, die Truchanow früher nicht unterstützt haben, sprechen sich nun gegen diese Kiewer Entscheidung aus, einen Bürgermeister abzusetzen, der dreimal gewählt worden ist.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Der Entzug der Staatsbürgerschaft sei rechtswidrig, die Absetzung eines Bürgermeisters ohne Zustimmung der Wähler verletze demokratische Normen und Rechte. All das, so Piliavsky, sei eine Steilvorlage für den Kreml, der nun sagen könne: »Seht, in der Ukraine werden tatsächlich die Rechte der russischsprachigen Bürger missachtet, dort herrscht Chaos, dort werden die Rechte gewählter Vertreter verletzt. Und Präsident Selenskyj verhält sich zunehmend autoritär.« Dabei wolle niemand in Odessa zu Russland gehören. Gleichwohl, so Piliavsky, spüre man die ablehnende Haltung Kiews gegenüber Odessa.
Abgeordneter spricht von Einschüchterung
Und der aus Odessa stammende oppositionelle Rada-Abgeordnete Oleksij Hontscharenko fürchtet, dass das Vorgehen gegen Truchanow gleichzeitig allen Bürgermeistern im Land eine Warnung sein soll. »In der Folge werden die meisten Bürgermeister eingeschüchtert und gegenüber den Behörden gehorsam sein«, schlussfolgert Hontscharenko.
Laut Gesetz muss nun der Vorsitzende des Stadtrates kommissarischer Bürgermeister werden. Doch Beobachter gehen nicht davon aus, dass Ihor Kowal, eine eher unscheinbare Persönlichkeit, dieses Amt übernehmen wird. Bei den jüngsten Kommunalwahlen hatte Bürgermeisterkandidat Kowal gerade einmal neun Prozent der Stimmen eingefahren. In der ukrainischen Präsidialverwaltung wünscht man sich eine Militärregierung für Odessa. Und so ist die Ernennung von Serhij Lysak, bisher Leiter der Militärverwaltung der Region Dnipropetrowsk, am Mittwochmorgen zum Chef der neu gegründeten Militärverwaltung der Stadt Odessa, nur logisch.
Truchanows Absetzung ist kein Einzelfall: In den vergangenen Monaten wurden mehrere Bürgermeister großer Städte – darunter Tschernihiw – entmachtet. Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko steht seit Längerem unter politischem Beschuss und im Konflikt mit der Präsidialverwaltung.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.