Mit 66 Jahren, da fängt das Abi an
Lernen im Alter: Neues Berliner Schulgesetz bietet mehr Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges
Katrin Dombach ist, so muss man zugeben, eine etwas ungewöhnliche Schülerin. Nicht nur, dass sie überhaupt nicht wie 66 Jahre aussieht, sie ist auch noch die älteste Abiturientin Berlins. Ganze 3186 Personen holten im Jahre 2002 in Berlin die allgemeine Hochschulreife nach, 12 Prozent von ihnen waren älter als 31 Jahre. Aber nur ganze drei Personen sind derzeit 60 Jahre und älter.
»Das hätte ich nicht gedacht«, sagt Dombach und muss dabei schon ein wenig grinsen, schließlich führt sie die Tabelle der Senioren-Abiturienten an. Und sie macht ihre Sache gut, keine einzige vier habe sie im Zeugnis, verkündet sie stolz. Im Sommer sind dann Abiturprüfungen, und was dann? »Danach will ich Politik und Geschichte studieren«, sagt sie zielstrebig. Das Komische daran ist: Ein Berufsziel hat sie nicht, braucht sie auch nicht, wie sie meint, gearbeitet hätte sie ja schließlich genug.
Genau das bekam sie zu spüren, als sie in Rente ging. Da sei ihr ganzes Leben zusammengebrochen. »Die Struktur fiel ja von heute auf morgen weg«, sagt Dombach. Anfangs sei das noch wie »Urlaub« gewesen, aber schnell legte sich ein Schleier unerträglicher Langeweile über einen immer trister werdenden Alltag. »Nach einer gewissen Zeit wurde mir klar, dass es das nicht sein kann«, meint sie. Zwar habe sie ein wunderschönes Einzimmerapartment, »sehr wohl« würde sie sich da fühlen, aber sie wollte was Neues erleben, was dazulernen.
Dann entdeckte Karin Dombach eines Tages die Broschüre vom Kolleg Schöneberg, in der stand, dass man dort das Abi nachholen könne. »Da habe ich einfach nachgefragt«. Etwas flau in der Magengegend sei ihr dabei schon gewesen. »Ich bin ja wirklich nicht mehr die Jüngste, und warum soll eine Dame in meinem Alter das Abitur nachholen wollen?« Doch eine gesetzliche Altersbegrenzung für Abiturienten gibt es nicht. Und die Schulleitung meinte: »Das Alter wird hier nicht diskriminiert«. Seitdem ist sie Schülerin.
Und Karin Dombach hat Spaß dabei. »Mir werden hier jeden Tag neue Fenster geöffnet«, sagt sie. Frau Dombach ist wissbegierig, auch wenn es manchmal nicht leicht für sie ist, wie sie meint. Ranklotzen müsse sie schon, schließlich habe sie nur den Volksschul-Abschluss der achten Klasse. Jetzt lernt sie Englisch, Spanisch, dann auch noch Mathe. Gerade am Anfang sei das alles sehr schwer gewesen. »Jetzt aber geht die Post ab«, unterstreicht Dombach und lacht dabei laut. Die 66-Jährige ist zuversichtlich. »Ich schaffe das schon«.
Doch die meisten können sich zu einem solchen Schritt im Alter nicht überwinden. Und nicht wenige fallen nach der Pensionierung in ein regelrechtes Loch. Eine Pensionierung kommt oftmals einer Arbeitslosigkeit gleich. Die Berufstätigkeit, mit der man sich ein Leben lang identifiziert hat, fällt weg. Mehr noch: Auch soziale Kontakte werden brüchig. Das war auch bei Karin Dombach so. Heute hat sie damit keine Probleme mehr, täglich ist sie unter jungen Menschen, die im Grunde ihre Kinder und Enkelkinder sein könnten. Ein komisches Gefühl? »Nein«, sagt die Abiturientin. »Na ja, zu Anfang wurde schon mal ein wenig verwundert gekuckt«. Und immer wollte man sie siezen, sagt sie. »Ja, gewundert habe ich mich schon«, gibt Mitschülerin Sarah Arndt, 24 Jahre, zu verstehen. Aber das Miteinander in der Klasse sei »prima«, meint Arndt. »Richtig spannend«, fügt Karin Dombach hinzu. Man könne viel von einander lernen. Gerade bei Themen wie dem Zweiten Weltkrieg könne Frau Dombach immer passende Fallbeispiele bringen, den Lehrer ergänzen, schließlich habe sie das alles ja miterlebt.
Demnächst könnte es noch mehr Personen wie Karin Dombach geben, die sich im hohen Alter ans Abi ranwagen. Seit dem 1. Februar gilt das neue Schulgesetz. Bislang konnten Personen in Berlin nur an Kolleg-Schulen das Abitur nachholen. Nach der neuen Regelung kann es nun auch an den Berufsoberschulen angeboten werden. Und das in zwei Varianten: Einmal in einem zwei-, dann in einem einjährigen Durchlauf. Voraussetzung für die erste Version ist der Realschulabschluss und eine Berufsausbildung, oder der Realschulabschluss mit fünfjähriger einschlägiger Berufstätigkeit. Für die einjährige Variante wird die Fachhochschulreife und eine Berufsausbildung verlangt.
»Das könnte viele in Berlin wieder auf die Schulbank bringen«, meint Hartmut Hartmann, Referatsleiter für die Schulaufsicht der beruflichen Schulen in Berlin. An 8 der insgesamt 49 Berliner Berufsoberschulen gibt es diese Möglichkeit schon jetzt, an 33 weiteren Oberstufenzentren könnte es demnächst so sein, nimmt Hartmann an. Bayern und Baden-Württemberg hat diese Angebote schon länger, Brandenburg kennt sie noch nicht.
»Das wäre doch toll«, meint Karin Dombach, wenn es demnächst noch mehr von ihrer Sorte geben würde. Bis sich die neue Möglichkeit aber rumgesprochen hat und es soweit ist, ist Dombach ohnehin schon fertig. Dann hat sie - wahrscheinlich - das Abitur im Gepäck. »Dann mach ich erst mal Urlaub bei meinem Sohn in Kairo«, sagt sie. Aber dann geht's ab zur Uni.
www.dbs.schule.de (Deutscher Bildungsserver), www.bebis.cidsnet.de (Informationen zum zweiten Bildungsweg in Berlin).
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