Die Eruption Sebastian Krüger
Junge Wilde gab es in den letzten Jahren auf der Kunstszene genügend - in Disziplin gebändigte wilde Junge dagegen kaum. Genialische Gebärden fanden selten genug ihre Entsprechung in einer formal überzeugenden Bewältigung. Umso aufsehenerregender war vor wenigen Jahren das Auftauchen des Phänomens Sebastian Krüger Da ist auf dem westfälischen flachen Lande einer herangewachsen, nein, emporgeschossen aus der Subkultur Da porträtiert einer Prominente aus Kultur und Politik, aber vorzugsweise aus der alternativen Szene rund um Pop und Rock. Und das penibel bis zum Gehtnichtmehr und gleichzeitig mit eruptiver Urgewalt. Der Senkrechtstarter als Naturereignis. Dabei alles andere als ein Naiver Von Anfang an das übererwachsene Raffinement einer Persönlichkeit.
Wenn es eines weiteren Beweises für die elementare Urwüchsigkeit der Rockmusik in ihrer inzwischen klassischen Ausformung bedurft hätte, hier ist er Als der 1963 geborene Sebastian Krüger noch zur Schule ging und dann als Punker Rivalitäten mit Skinheads durchkämpfte, da gab es massenhaft optische Umsetzungen zu Beat und Beatles: eine vitale Undergroundkultur. Im kleinbürgerlichen Elternhaus von Kultur wenig beleckt bis auf die wunderliche Leidenschaft des braven Vaters für Francois Villon, werden die Rolling Stones mit Mick Jagger und Keith Richards an der Spitze für ihn die entscheidende künstleri-
sche Offenbarung. Immer wieder stürzt sich der Fan ins Abenteuer immer neuer Porträts vonahnen.
Der Begriff „hautnah“ bekommt bei Krüger eine neue Dimension: einem Idol noch näher zu kommen als er ist schlechthin unmöglich. Sein Ehrgeiz ist, porentief in Gesichter einzudringen, körperliche Plastizität zu modellieren, extreme Gebärdensprache zu übersteigern. Ein Nonplusultra der Porträtähnlichkeit ist sein Ziel - die Mittel sind zweitrangig. Feder, Bleistift, im Arbeitsprozeß von Acryl-Lasuren völlig überdeckt. An der Ähnlichkeit wird geknetet -aber was heißt da überhaupt „ähnlich“? Das Originalgesicht wird fortan Mühe haben, dem hochgekitzelten Topausdruck des Krüger-Bildnisses noch gerecht zu werden. Vielleicht fühlt es sich unter den tausenden halbgewalkten Oberflächenablichtungen gängiger Machart wohler? Wieviele wandeln schließlich nur noch als schwacher Abglanz eines göttlichen Entwurfs auf Erden, hoffnungslos hinter sich selbst zurückbleibend. Doch Krügers Geistesverwandte steigern sich selbst als Musik- oder Textmacher in höchste Ekstase.
Porträtist Krüger bedient sich zunächst einer Methode, die er vorgefunden hat: Nahaufnahme, überdeutlich. Zur ersten Blütezeit des Fotorealismus (40er Jahre in den USA) brillierten im Gefolge von Rockwell Kent die Illustriertenzeichner als scharfe Konkurrenten der Fotoreporter
Der Immigrant Artzybachieff schaffte es als Titelporträtzeichner des Magazins TIME, sie in die Flucht zu schlagen: So viele Fältchen und Äderchen fand keine Kamera. Danach lag der Gedanke nahe, die Übertreibung fortzusetzen und Überlängung und Breitziehen von Visagen zu probieren. Franzosen namens Morchoisne, Ricord und Mulatier errangen als hinterher zerstrittenes Dreigespann den Meistertitel - und so manchen SPIEGEL-Titel. Als die Masche zur Virtuosität ausartete, kam der unheilige Sebastian aus Westfalen und brachte die Manier auf den Punkt, wo sie Wonneschauer und Ekelschauder gleichermaßen auszulösen vermag.
Denn: Bei aller Glätte auf Hochglanz gestylter Perfektion, die er zumal Gefälligkeit anmahnenden Auftraggebern frei Haus liefert, täuscht der Herr Porträtierer niemanden über das Abgründige seines Charakters hinweg. Als Scharfbeobachter ist er ein rauher Gesell und unangenehmer Wahrheit heftig auf den Fersen. Er sieht durch bei Menschen. Er schaut den Prominenten mehr ins Maul als dem Volk aufs Maul. Er liefert Lippenbekenntnisse in des Wortes völlig neuer Bedeutung - er ist bei seinen Modellen extrem mundfixiert. Beißen, Lecken, Schreien, Stöhnen, Blecken ist seine Welt. Spiegelbild der Hochkultur des Zahnglanzes ist die Subkultur des Zähnezeigens wo bleiben die Soziopsychologen, das zu analysieren? Der Exzeß des Experiments kann
Krüger auch in den Mißerfolg treiben, wenn er den geöffneten Mund eines Neonazis in Hakenkreuzform faltet. Tollkühn, das Mißlingen wird riskiert. S. K. ist kein Aufnummersichergeher. Noch nicht?
Atemberaubende Intensität oder Schnickschnack für Schickimicki, Psychothriller oder Blendwerk - das ist die Frage, die sich stellt, wenn der Telefonhörer nach Auftragsannahme weggelegt wird. Seit neun Jahren zu treuen Händen gut aufgehoben bei Becker-Derouet Hamburg, Agentur für Comic, Cartoon und solche Sachen, gönnt das vulkanische Temperament des Newcomers sich künstlerische Eskapaden, nach denen der Markt nicht schreit. Hypersensible Deutungen des Leidensantlitzes eines Willy Brandt oder eines Joseph Beuys gelingen ihm dann. Ganz persönliche Sichten, die er aus seinem privaten Reservoir jetzt an die Öffentlichkeit via Exposition „backstage“ in Hannover, Wilhelm-Busch-Museum, gibt. Schon der wie immer mustergültig konzipierte und gedruckte Katalog vom Verlag Gerd Hatje Stuttgart dokumentiert die schrillen Kontraste in diesem Lebensanfangswerk. Die Mick- oder Kcith-Variationen, Charlie Parkers knittriges Face oder die Grimasse des Undergrounddichters Burroughs kontrastieren da zu AI Bundy und Theo Waigel.
Wilhelm-Busch-Museum Hannover- backstage, Porträtkarikaturen von Sebastian Krüger Bis 8. Januar 1995
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