Moskaus Kriegstrophäe: Das Erdöl in Tschetschenien
Seit 100 Jahren profitiert Rußland vom Schwarzen Gold im Nordkaukasus / Allein 180 Mio Dollar Anlagenschäden
Von WERNER GOLDSTEIN
Wenn auch jetzt fast gänzlich zerstört oder brachliegend, bleibt dennoch die Erdölindustrie Tschetscheniens eine nicht gering geschätzte Kriegstrophäe für die Jelzin-Administration. In der Hoch-Zeit sowjetischer Erdölförderung wurden in Tschetschenien etwa 20 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr (1970) gefördert. Die Raffinerien Grosnys verarbeiteten jährlich 16 Millionen Tonnen. Sie waren bedeutendster Flugbenzin-Produzent der russischen Föderation.
1892 war bei Grosny erstes Erdöl in geringer Menge gefördert worden. Bis 1917 sprudelte es schon aus 386 Bohrlöchern für französische und britische Verarbeitungsfirmen. Nach dem zweiten Weltkrieg entstand daraus ein wichtiges, wenn auch relativ kleines Förderungs- und -verarbeitungs Zentrum, das sich neben der Großproduktion des Wolgagebiets und Westsibiriens sehen lassen konnte. Verarbeitet wurde nicht nur der Rohstoff aus den Tiefen des eigenen kleinen Gebietes der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen SSR, sondern auch solcher aus dem westsibirischen
Tjumen sowie von den Nachbarn Stawropol und Dagestan.
Der erdölverarbeitenden Industrie nachgeordnet wuchs eine bedeutende Petrochemie. Betriebe für Bohrausrüstungen und ihre Reparatur, für Gerätebau und anderes gewannen mit den Jahren Bedeutung, zogen Zehntausende Russen in das Bergland, die heute wie ihre tschetschenischen und inguschischen Nachbarn vor Trümmern stehen, ihrer Existenz beraubt sind. 1990 wurden nach Angaben des Kölner Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien noch 6,2 Millionen Tonnen Erdöl (russische Quel-
len geben sogar zwei Millionen weniger an) und 1,5 Milliarden Kubikmeter Gas gefördert. Aber der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft ließ auch hier die Produktion immer mehr sinken. 1993 pumpte man nur noch 3 Millionen Tonnen Rohöl aus der Erde. Sie sollen 150 Millionen Dollar Erlöse erzielt haben, die jedoch laut Moskau in „obskure private Kanäle“ geflossen seien. Nach Informationen des russischen Ministeriums für Wirtschaft sollen von den 1 500 Bohrlöchern der Region zur Zeit nur noch 100 funktionieren. 60 Prozent der Raffinerie-Kapazität Grosnys sei noch betriebsfähig, nachdem zumindest eine der drei Anlagen in Flammen aufgegangen war. 720 Milliarden Rubel, etwa 180 Millionen Dollar, würde nach jetziger Schätzung die Schadensbehebung kosten. ?'
Nicht nur der späteren Erdölfunde wegen hatte sich der Eroberungsfeldzug gelohnt, den Rußland 1818 in den
Nordkaukasus goführt hatte und bei dem General Jermolow mit 5 000 Mann den tschetschenischen Widerstand brach und die Foste Grosny gründete. Denn auch strategisch besaß die Region für Moskau große Bedeutung, war sie doch Verkehrsknotenpunkt der bedeutendsten Überlandverbindung aus dem Wolgagebiet nach Transkaukasien, der Elsenbahnlinie von Rostow nach Baku, die jetzt blockiert ist.
Hatte schon die sogenannte Übergangsperiode zur Marktwirtschaft die Beziehungen zwischen der nach Unabhängigkeit strebenden Bergrepublik und Rußland auf den Gebieten des Handels, der Finanzen und des Verkehrs beträchtlich gestört und zu raschem Ökonomischem Niedergang sowie großen Versorgungsproblemen geführt, so haben die militärischen Aktionen Rußlands inzwischen die Kriminalisierung des Wirtschaftslebens in Tschetschenien verschärft, wie das Kölner
Forschungsinstitut einschätzt. Die offizielle Wirtschaft des Landes funktioniere nur noch in Teilbereichen, am ehesten noch im Agrarsektor. Allerdings gäbe es inoffizielle materielle Quellen, die von der tschetschenischen Diaspora im Nahen Osten gespeist würden und für das Überleben des Einmillionenvolkes eine große Rolle spielen. Ein wichtiger Zustrom an Finanzen käme vom Transfer unverzollter Waren aus islamischen Ländern, darunter nicht zuletzt Waffen und Narkotika. Wenn mafiaartige Strukturen immer mehr an Einfluß gewännen, je mehr die Staatsmacht schwinde, erkläre sich das besonders aus der tschetschenischen Tradition der eng verknüpften moslemischen Sufi-Bruderschaften, die hohe Clan- und Familiensolidarität, Religiosität und Disziplin auszeichnen. Sie waren schon vor zweihundert Jahren Kern des Widerstands gegen russische koloniale Unterdrückung.
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