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  • Kultur
  • „Schatten entziffern“ von GÜNTER KUNERT

Ich & die Welträtsel

  • Lesedauer: 4 Min.

Mann, der auf vielen Schienen schreibt. Auf einigen folge ich ihm mehr, auf anderen weniger Da gibt es zunächst den Berliner Kunert. Berlin /Da ist nichts mehr / zu beschreiben. Statt dessen / verhöhnt Beton alles Eingedenken... 1978 geschrieben, korrespondieren diese Verse mit dem Essay „Ich - Berlin“ von 1994, welcher endet: Berlin... eine Großsiedelei, eine Fremde, die man nicht kennt, die einem nichts mehr zu sagen hat, und vor der man selber sprachlos steht, ehe man sich abwendet,

um zu erstarren.

Hier lese ich den Kunertschen Grundtenor heraus, der nicht nur für den verzweifelten Berlinwanderer zutrifft. Die Heimat als Fremde, die Suche nach der verlorenen Zeit, das Warten auf die Erlösung, das Leben in Erinnerungen. Ich -Stadt - Welt ergeben eine fast tragische Linie. Ich glaube Kunert in seinen Verzweiflungen. Anderen, vor allem nachfolgenden Schreibern im Tone Kunerts kann ich nicht glauben. Kunert gelangt über sich hinaus. Das ist der Unterschied

Von KERSTIN HENSEL

Günter Kunert. Schatten entziffern. Lyrik, Prosa. Herausgegeben von Jochen Richter Reclam Verlag Leipzig. 250 S., brosch., 18DM.

zu seinen Epigonen. Sucher eines Weges/für mehr/als mich, schreibt er schon 1950. In vielem ist es ihm gelungen.

Der bukolische Landgänger Kunert mit der schönen Frage Warum Landleben?, der Heimatsuchende, der Naturbetrachtende, der Kunstbetrachtende, der philosophische Kunert, der große desillusionierte Skeptiker, die liebende Kunert - das dünne Wort „vielseitig“, wie es auf dem Buchdeckel steht, würde ich für diesen Dichter nicht verwenden. Es ist mehr als kunstgewerbliche Verfügbarkeit. An manchen Stellen auch weniger. Zum Beispiel bin ich immer skeptisch,

wenn ein Gedicht zu häufig ICH sagt. Das ist natürlich absurd, denn wo, wenn nicht im Gedicht, kann man so gut ICH sagen. Mit ICH beginnen Geständnisse und Bekenntnisse, schreibt Kunert im Text „Heimat“ von 1986. Trotz offensichtlicher Selbstironie ist es für mich eine Frage der Ausdauer, wie lange mich dieses ICH interessiert. Auch wenn es gleichsam mehr bedeutet als irgendein Herr Kunert aus Itzehoe. ICH hat in der Dichtung immer eine Stellvertreterfunktion. Das Schwere ist eben, diese Gültigkeit zu erlangen. Schon sind wir bei der unseligen Geschmacksfrage.

Ich liebe jene Texte von Kunert, die sich mittelbar mit den Fragen der Welt beschäftigen. Die witzigen, absurden Texte liebe ich. Miniaturen wie „Der fliegende Mensch“ oder „Zentralbahnhof' Texte, in denen

das Wort ICH nicht vorkommt. Was wäre Dichtung ohne Erinnerung. Der 65jährige Kunert lebt und schreibt davon. Es sind nicht nur seine Erinnerungen, und auch die Art, sie wieder und wieder ans Licht zu befördern, betrifft uns alle. Nicht eine Erinnerung/ wurde beschädigt/ aber keine will mir mehr gehören/ nachdem die Holzwolle sie/ nicht länger verbirgt. Da haben wir den Widerspruch, die mit jedem Lebensjahr wachsende Verzweiflung, hinter den Sinn der Existenz zu kommen.

Wie gesagt, ich bin Kunert niemals begegnet. Die Reclam-Bändchen in der DDR trugen schwarz-weißes Cover „Schatten entziffern“, der Querschnitt durch des Dichters Gesamtwerk, umhüllt grau-weiße Pappe. Nach dem Lesen des Buches weiß ich: ich habe die Kunertschen Texte nicht mehr so eindeutig nötig, wie ich sie damals im engen Ländel hatte. Die kleinen bösen Texte, die mir einen neuen Blick auf die Welt gaben, hatten mich weitergebracht zu einer Sicht, die ich jetzt beherrsche. Die Wahrheiten haben für mich heute nichts Atemberaubendes

mehr, es muß auch nicht so sein. Ich lese sie jetzt mit gewisser Sentimentalität. Manche auch mit Unmut. Sie erinnern mich meiner Lehrzeit. Ich denke, daß mein Sohn sie vielleicht einmal nötig haben wird. Wird er aber die Dimension z. B. von „Dornröschen“, die vom Prinzen als alte Vettel wachgeküßt wurde, begreifen? Wird er so freudig erschrecken wie ich damals, 198Q? Es gibt keine allgemeine Haltbarkeit von Dichtung. Sie wandelt sich mit dem Verständnis des Lesers und der Zeit. Ich empfinde das nicht als bedauerlich. Trotz allem weiß ich, daß ich Kunertsche Poesie noch manches Mal aus dem Regal ziehen, darin lesen und wichtiges anstreichen werde.

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