- Kultur
- „Das Taschentuch“, Roman von BRIGITTE KRONAUER
Eine Liebeserklärung an die Stillen
Eine Frau erzählt über einen Mann, über den Apotheker Willi Wings, ihren Freund. Über ihre Zusammentreffen, über seine Familie und am Ende über seinen Tod. Es ist ein ganz normales Leben im bundesdeutschen Alltag. Die beiden, Erzählerin und Objekt der Beobachtung, kennen sich seit ihrer Kindheit in der Nachkriegszeit, sind eng vertraut, haben keine Geheimnisse voreinander Die Zeit, in der ihre häufigen Begegnungen stattfinden, wird charakterisiert mit den Worten: „Jetzt, wo der Golfkrieg vorbei und aus der DDR schon längst reguläres Ostdeutschland geworden ist“, also die Gegenwart, in der wir alle mitten drin stecken. Dennoch hat man den Eindruck, es passiert nichts in diesem Buch - oder besser gesagt: Es passiert das normale Leben.
Dieser Mann, „unser aller Willi“ nämlich, ist ein sonderbarer Mensch, ein Geschäftsinhaber, doch kein Geschäftsmann, dabei ein gutsituierter Familienvater, nicht besonders erfolgreich, nicht besonders erotisch wirkend, im Grunde genau der Typus des Durchschnittsbürgers. Bei allem aber auf eine berührende Weise, liebenswert. Einen solchen unauffälligen Menschen zur erzählten Figur eines Zeitromans zu machen, das ist schon Programm.
Von LISA HERTEL
Brigitte Kronauer- Das Taschentuch. Roman Klett-Cotta Stuttgart, 268 S., geb., 38 DM.
Vor zehn Jahren noch, zum Beispiel bei ihrem Roman „Rita Münster“, hatte Brigitte Kronauer ganz andere Ambitionen. Damals schrieb sie mit ihrer Prosa bewußt am Aufbrechen der weiblichen Sprachlosigkeit mit, einer Variante weiblicher Subjektivität durch das Bewußtmachen des eigenen Körpers. Wer etwas dieser Art erwartet, wird es nicht finden. Alles kommt erst einmal eher harmlos daher Aber etwas ist geblieben von Brigitte Kronauers spezifischer Erzählkunst: die ungeheuer genaue Figurenbeobachtung, die exakte, fast “akribische Beschreibung der kleinen Besonderheiten, der in die Figur eingeschriebenen Feinheiten an Gesten, Blicken und Wortwahl, die einen Menschen erst wirklich ausmachen.
Bei Willi ist es das Taschentuch. Seine auffällige Vorliebe für ein ausgiebiges, beinahe genießerisches Sichaus-
schnauben. Zuweilen hat es den Anschein, er halte sich an seinem Taschentuch fest, es gebe ihm Rückhalt und Sicherheit, oder aber er verstekke sich sogar hinter ihm. Das Taschentuch wird zum Menetekel eines Figurenporträts, bis
hinein in die großartig erzählte Todesszene.
Es ist ein leises Buch, der Hauptfigur sehr angemessen. Willi spielt oft absichtlich den Schüchternen, Versöhnlichen, den auf Ausgleich Bedachten. Zu allen ist er nett, will Kränkungen anderer wiedergutmachen, ist der ideale, liebenswürdige Sohn und Schwiegersohn sehr alter Damen. Die Erzählerin ist offenbar die einzige, die dieses Spiel des Protagonisten tatsächlich als ein solches erkennt, weil ihr die Person selber wichtig ist. Sie sieht in den scheinbar schrulligen Gewohnheiten des Freundes, der dem sich verschärfenden Konkurrenzkampf auf dem freien Markt des Arzneimittelverkaufs so gar nicht gewachsen ist, mehr menschliche Substanz als in den meisten anderen Mitspielern im Familienund Freundeskreis. Ich gestehe, daß ich anfangs gar nicht sicher war, ob die Autorin denn wirklich etwas mitzuteilen habe. Mehr und mehr aber war ich davon überzeugt. „Das Taschentuch“ ist ein Buch, dessen Dimension sich erst im Schlußteil ganz erschließt. Ich lese es als eine Liebeserklärung an die Stillen, die sich nicht ständig lauthals und effizient zu „verkaufen“ suchen, sondern die wertvoll sind durch eine beinahe altertümliche Redlichkeit.
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