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Lebt Napoleons Schildkröte noch?

Kurioser Datenschwindel auf dem Panzer - Als die Kaiserin ihr „Schicksals-Tier“ verlor Von WERNER KOEP

  • Lesedauer: 4 Min.

Schildkröten sind für Zoologen ein Dauerthema. Weil sie trotz der Schutzprogramme in Ländern wie Japan und Malaysia und der jüngsten Aktion von 26 Staaten und Territorien des Südpazifik-Umweltprogramms für ein Handelsverbot zu den gefährdetsten Tiergruppen auf Erden gehören weil wenigstens 15 000 der Meerestiere alljährlich in Fischernetzen umkommen - und weil erst unlängst entdeckt wurde, daß die Jungtiere, wenn sie den gefährlichen Eilmarsch vom Brutplatz zum Meer geschafft haben, selbst im Ozean noch vielen Gefahren ausgesetzt sind: nicht nur durch tierische Jäger, sondern auch durch Teer, der oft genug die erste „Mahlzeit“ ist.

Doch auch die Forscher finden noch Neues über das Leben der Panzertiere heraus. Ihre Navigationskünste auf der viele Tausende von Kilometern langen Reise durch die Weltmeere konnten erst vor kurzem enträtselt werden, ebenso, daß die Langstreckenschwimmer fünf bis sieben Jahre bis zur Geschlechtsreife im Sargasso-Meer zubringen - und neu ist auch die durch Genuntersuchungen gewonnene Erkenntnis, daß längst nicht alle Jungen eines Geleges Geschwister sind: Nicht selten befruchten bis zu einem halben Dutzend Männchen ein einziges Gelege.

Eine kleine Sensation ereignete sich vor genau dreißig Jahren in Mosheim bei Kassel, als ein Bauer eine Schildkröte fand. Ein Nachbar erkannte, als er sich den ungewöhnlichen

Fund von allen Seiten betrachtet und ein kleines Loch im Panzer gefunden hatte: Das war „Elfriede“! Dieses Tier, berichtete er, habe er als Junge bekommen und ein Loch in ihren Panzer gebohrt, um sein Haustier draußen an einem langen Faden laufen zu lassen. Als der junge Mann 1941 zum Kriegsdienst eingezogen wurde, war die Schildkröte noch da. Doch kurz daraufwar „Elfriede“ in den Wirren des Krieges verschwunden. Bis sie fast ein Vierteljahrhundert später wieder auftauchte: ganz in der Nähe, wo sie offenbar all die Zeit gelebt hatte. Doch was ist für ein Schildkrötenleben denn schon der Zeitraum eines Vierteljahrhunderts!

Mit Schildkröten hat auch zu tun, wer als Tourist auf Napoleons Exil-Insel St. Helena kommt. Denn hier gibt es ein

Tier, das von den Einheimischen wie eine Kostbarkeit gehütet wird. Es ist die Riesenschildkröte „Jonathan“' Altehrwürdig, erfährt der Gast, sei dieser Gigant, der schon vor 275 Jahren gelebt habe, denn er sei Napoleon I. zum Geschenk gemacht worden. Zoologen, die „Jonathan“ begutachteten, zweifeln indessen. Gut hundert Jahre, stellten sie fest, hat das Kriechtier gewiß auf dem Panzer, doch kein Vierteljahrtausend. Was die Inselleute wenig beeindruckt. Der große Napoleon aber hat „Jonathan“ nicht gekannt. Die Tiere, mit denen er sich die Zeit vertrieb, leben nicht mehr Eines aber, das ebenfalls mit einem Napoleon zu tun hatte, soll tatsächlich noch seine langsamen Wege kriechen und ihm wird ein ganz besonderes Schicksal nachgesagt.

Es machte erstmals von sich reden, als Eugenie, die Frau an der Seite Napoleons III., das gepanzerte Wesen bei der Einweihung des Suezkanals 1869 nach Ägypten mitbrachte. Die Kaiserin wollte die Schildkröte immer bei sich haben, denn sie war ihr mit dem Hinweis verehrt worden, daß das Leben eines Tieres eng mit dem Schicksal dessen verknüpft sei, der es besitze. Ob sie das nun glaubte oder nicht - Eugenie hütete ihren Talisman jeden-

falls ängstlich. Und sie war deshalb verzweifelt, als das Panzertier während des Ägypteri-Aüfenthältes verschwand.

Dutzende von Dienern suchten tagelang, Soldaten wurden eingesetzt - doch alles war vergebens. Nach der Heimkehr ließ die Kaiserin immer wieder nach ihrem „Schicksals-Tier“ fahnden, ohne Erfolg. Bis nach einigen Jahren die Schildkröte unvermittelt auftauchte. Doch nun gab es in Paris niemanden mehr, der es haben wollte, denn Napoleon und Eugenie hatten das Land schon verlassen.

So blieb die Gepanzerte in Kairo. Sie führte im Garten von Inschass ein ruhiges Dasein, überlebte den Sultan Husein Kamil, den Nachfolger Fuad I. und auch König Faruk. Und wieder schien es, als sei die Prophezeiung wahr, daß Mensch und Tier schicksalhaft verbunden seien. Denn 1952 mußte Faruk fluchtartig seine Heimat verlassen. Seine Töchter wollten die mysteriöse Schildkröte mitnehmen, doch der abgedankte König hatte mehr Sinn für anderes Gepäck. Das Tier blieb. Noch älter als Eugenies Schildkröte wurde die sogenannte Mauritius-Schildkröte, mit fast 200 Jahren der Methusalem der Schildkröten.

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