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Ist jemand zum Verbrecher geboren?

Neue Blüte des genetischen Fundamentalismus nicht nur in den USA

  • Lesedauer: 3 Min.

Von Dr. MARTIN KOCH

Die Geschichte ging durch alle Medien: Im Jahre 1994 erhängte sich der Österreicher Johannes Unterweger in seiner Gefängniszelle, etwa vier Stunden nachdem ein Grazer Gericht ihn wegen Mordes an wenigstens neun Frauen schuldig gesprochen hatte. 1975 brachte er ein achtzehnjähriges Mädchen um und bekam dafür eine lebenslange Haftstrafe. 1990 wurde er vorzeitig aul Bewährung entlassen. Bis man ihn erneut verhaftete, beging er in den USA weitere Sexualmorde.

Der Mainzer Kriminologe Armand Mergen glaubt, daß man zumindest einige der Morde hätte verhindern können, wäre Unterweger rechtzeitig genetisch untersucht worden. Verbrecher wie Unterweger seien nämlich an ihren Geschlechtschromosomen zu erkennen. Sie hätten im Gegensatz zum „normalen“ Mann, der XY besitzt, die Struktur

XYY Ein Y-Chromosom, so sagen die Genetiker, bestimme den männlichen Phänotyp. Ein Y-Chromosom zuviel, so sagt Mergen, erzeuge im Mann eine „kriminogene Potenz“, indem es männliche Aggressivität und Triebhaftigkeit verstärke. Um diesen vermeintlichen Zusammenhang zu belegen, erzählt Mergen, wie schon andere vor ihm, die Geschichte vom Massenmörder Richard F Speck, der am 13. Juli 1966 in Chicago acht Mädchen erdrosselte, und der die Chromosomenabweichung XYY besessen habe.

Neu sind solche Thesen nicljt. Bereits 1876 erklärte der italienische Arzt Cesare Lombroso, daß kriminelles Verhalten erblich bedingt sei. Fliehende Stirn, großer Kiefer, vorstehende Wangenknochen oder lange Arme würden den Kriminellen untrüglich verraten. Deshalb schlug Lombroso vor, die dergestalt Gezeichneten von der übrigen Gesellschaft abzusondern.

Dazu Mergen: „Es ist kaum möglich, den .geborenen Verbrecher' an anthropologischmorphologischen Merkmalen zu erkennen.“ (S.95) Das bedeute aber nicht, so der Kriminologe weiter, daß Lombrosos Ansatz gänzlich falsch gewesen sei. Ihm fehlten halt nur die modernen Erkenntnisse der Genetik. Chromosomenveränderungen sind angeboren und „insoweit sie das Risiko des antisozialen Lebens verstärken, kann man sagen, daß sie Lombrosos Gedanken unterstützen.“ (S.193)

Zwar seien nur etwa zwei Prozent aller Gewaltverbrecher betroffen, schreibt Mergen, doch müsse man zum Wohle aller die Umweltsituation der zum Verbrecher prädestinierten Menschen entsprechend verändern. Wer nun etwa glaubt, der international bekannte Kriminologe plädiere für eine Verbesserung ihrer sozialen Lage, der sieht sich getäuscht. Vielmehr müsse man potentielle Straftäter -

etwas anderes läßt sich aus Mergens Buch beim besten Willen nicht herauslesen - von der restlichen Gesellschaft fernhalten.

Mergen unterschlägt zwei wichtige Informationen. Als Reaktion auf den „Fall Speck“ führte man in Boston tatsächlich einen Chromosomen-Test aller Neugeborenen ein, mit dem Ziel, potentielle Gewaltverbrecher frühzeitig zu erkennen. Die Untersuchung wurde abgebrochen, als bekannt wurde, daß der angebliche Zusammenhang zwischen XYY-Männern und Gewalt aufgrund unseriöser Studien zustande gekommen war. Zu guter Letzt erwies sich der Vorzeigemörder vom Typ XYY, Richard Speck, als gewöhnlicher XY-Mann.

Armand Mergen: Das Teufelschromosom. Zum Täter programmiert. Bettendorf sehe Verlagsanstalt GmbH: Essen-München-Bartenstein-Venlo-Santa Fe 1995. 224 S. 39,80 Mark.

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