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  • Kultur
  • Revolutionär des Dokumentarfilms: Dsiga Wertow wäre gestern 100 Jahre alt geworden

Es lebe das Leben so, wie es ist!

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Wertow (r.) bei Aufnahmen zu „Donbass“ (1929) Foto: Archiv

Er war jung, schön, genial und von einer radikalen Unbesonnenheit, die man nur gewinnen kann, wenn man a) in eine Zeit geboren wird, die einen trägt, und b) von sich und seiner Mission zutiefst überzeugt ist. Dies traf auf Dsiga Wertow zu, der eigentlich Denis Kaufmann hieß, und schon die frühe Wahl eines Pseudonyms gibt eines jener Rätsel auf, die zu lösen wir nicht mehr imstande sein werden. Er war gerade achtzehn, als es ihn nach Moskau zum Studium drängte. Die Revolution hatte gesiegt und brauchte ihre Helden. Da kam der musikbegeisterte Dsiga Wertow, der sein Handwerk als Cutter begann, gerade recht. Und wie er kam. Dreiundzwanzigjährig verfaßt er als erstes ein Pamphlet: „Nicht nahe kommen! Lebensgefahrlich! Ansteckend!“ So warnte er vor den seichten ausländischen Filmchen seiner Zeit wie „Die Augen der Mumie Ma“, „Die Priesterin der Freude“, „Die geliehene Frau“ und wie sie alle hießen. Er verabscheute die verlogenen, unrealistischen Rührstücke und Melodramen, die mit der Wirklichkeit nicht das geringste zu tun hatten, und entwickelte sich - er war gerade 27 Jahre alt - zum Puristen. Das Leben sei „so wie es ist“ darzustellen. Eigentlich nahm er 40 Jahre

früher praktisch den Protest vorweg, den deutsche Filmemacher 1967 im Oberhalisener Manifest mit den Worten „Papas Kino ist tot“ formulierten. Heute könnte man angesichts der Verluderung der Kunst auf Leinwand und Bildschirm das Pamphlet pur übernehmen.

Und es nimmt nicht wunder, daß er in seiner revolutionären Radikalität über das Ziel hinausschoß und den Spielfilm in Gänze ablehnte. Das, was das Leben bot, schien ihm darin generell verzerrt. Er konzentrierte sich ganz auf das, was für ihn wichtig war, und ent-

wickelte in Theorie und Praxis eine rie'üeBildsp'rache, dieT'zu-?sammengesetzt- aus authentischem Material und wohlüberlegter Montage, jene Kunstform hervorbrachte, von der bis heute Filmemacher der ganzen Welt profitieren. Wertow begann, die Aufnahmen nach dem Prinzip der musikalischen Kombination zu verbinden. Er wählte die Einzelteile nach bestimmten Längen aus und entwickelte daraus eine gewisse rhythmische Ordnung.

Er suchte Material unter dem Gesichtspunkt thematischer Gemeinsamkeit und montierte unbedenklich zeitlich und räumlich entfernte Aufnahmen zu einer Sequenz. Das Ergebnis war ebenso verblüffend wie genial: Über die Montage erreichte er eine Synthese, in der das authentische Bild und die Verallgemeinerung eines Vorgangs enthalten waren. Seine Experimente und ihr Erfolg rissen den jungen Kameramann zu den triumphierenden Worten hin: „Ich bin das Kinoauge, ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam...“

Unzufrieden mit dem, was andere ihm lieferten, machte er möglich, was damals unmöglich erschien. Er drehte aus dem fahrenden Zug, vom Auto oder vom Motorrad aus.

Er arbeitete ohne Stativ, veränderte Blickwinkel und Kamerastandpunkte, näherte die Beweglichkeit des Objektivs dem menschlichen Auge an, verlangsamte und beschleunigte das, was er sah. In seinem Film „Der Mann mit der Kamera“ (1929) ließ er Häuserzeilen sich einander annähern und zusammenstürzen, Gesicht und Landschaft in Großaufnahme und Totale aufblitzen, er erhob sich in die Lüfte und filmte aus der Froschperspektive, schuf

atemberaubende Bilder, die heute noch unübertroffen sind.

Zu den tragischen Aspekten seines Lebens gehört, daß Genialität und Radikalität immer weniger in dem langsam erstarrenden System gefragt waren, eine Formalismusdebatte ihm früh „die Instrumente der Inquisition“ zeigte. Wertow hat dennoch - bis in die 30er Jahre hinein - auf seine Art, sich auszudrücken, bestanden. Sein großes Thema Lenin hat ihn vor Schlimmerem bewahrt. Aber die letzten zwanzig Jahre seines Lebens, er wurde nur 58 Jahre alt, drehte er brav wöchentlich seine Wochenschau KINOGLAS, die er einmal so wunderbar gebar. Was wir ihm an Dank schulden, hat das Jubiläum 100 Jahre Kino gerade sinnfällig gemacht.

MARGIT VOSS

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