Woran scheiterte die Oktoberrevolution?
Zu »80 Jahre russische Revolution -Was bleibt vom Roten Oktober? / Kein Betriebsunfall der Geschichte« von Stefan Doernberg (ND vom 20./21.9.):
Den Artikel von Stefan Doernberg finde ich sehr interessant und geeignet, eine Diskussion zum Thema Oktoberrevolution zu entfesseln. Die Oktoberrevolution ist gewiß kein Betriebsunfall der Geschichte, und sie hat den Verlauf dieses Jahrhunderts nachhaltig beeinflußt, zum Beispiel durch den entscheidenden Beitrag zur Niederschlagung des Faschismus und die Einhaltung der längsten Friedensperiode in der entwikkelten Welt (seit 1945), wobei das Gleichgewicht der Kräfte eine große Rolle spielte.
Mit der Schaffung einer Entwicklungsdiktatur in der Sowjetunion wurde trotz aller Fehlentwicklungen bis in die 60er/ 70er Jahre eine beachtliche sozialökonomische, wissenschaftlich-technische und auch kulturelle Entwicklung ermöglicht. Als Herausforderung des traditionellen kapitalistischen Systems bewirkte sie dort maßgeblich Systemmodifikationen (vor allem in Westeuropa und Japan). Die So-
wjetunion leistete einen beträchtlichen Beitrag zur Zerschlagung des Kolonialismus und zur Eingrenzung des Neokolonialismus.
Aber weiter würde ich nicht mit Stefan Doernberg gehen. Auf Grund des niedrigen sozialökonomischen und kulturellideologischen Entwicklungsstandes Rußlands im Jahre 1917 (letztendlich auch durch seine revolutionäre Avantgarde reflektiert) war keine sozialistische Entwicklung möglich. So mußten zwangsläufig auch die Ansätze sozialistischer Trends in Osteuropa scheitern. Sozialistische Entwicklungsalternativen überlebten nur in Ländern, die nicht von sowjetischen Truppen befreit wurden (China, Vietnam, Kuba), also in Staaten mit originären Revolutionen.
Wir sollten aber auch die negativen Wirkungen, die doch mehr oder weniger aus den Entwicklungsprozessen 1917-24 resultieren, sehen:
- Schaffung einer monströsen militär-bürokratischen Oberschicht, die noch heute an den politischen und ökonomischen Schalthebeln Rußlands sitzt;
- letztendlich Weiterführung der schon unter dem Zarismus praktizierten Unterdrückung der menschlichen Persönlich-
keit, vor allem in Bezug auf die demokratischen Grundrechte;
- Überdeckelung der nationalen Problematik durch eine forcierte Russifizierung;
- Niedergang der an die Sowjetunion gebundenen kommunistischen Bewegung und Spaltung der Linken;
- Umweltfrevel in bisher nicht gekannter Weise;
- Massenmord an in- und ausländischen linken Persönlichkeiten im besonderen und an Teilen des Sowjetvolkes im allgemeinen.
Es ist zu kurz gegriffen zu behaupten, daß die Oktoberrevolution nicht die notwendigen ausreichenden Grundlagen schuf, um späteren Fehlentwicklungen vorzubeugen. Die Bolschewiki unter Lenin waren nicht nur insgesamt nicht in der Lage, Deformationen vorzugreifen, sondern sie schufen diese mit einer beispiellosen Zentralisation der Macht und mit der Theorie der Partei neuen Typus.
Es ist wesentlich einfacher, Macht zu bündeln (die Machtzentralisation erfolgte
- zumindest in Ansätzen - schon vor dem Bürgerkrieg), als Macht zu dezentralisieren. Hauptstolpersteine werden dann immer diejenigen sein, die von der Machtkonzentration in irgendeiner Weise profitieren, egal, wie die soziale Ausgangsbasis oder revolutionäre Vorgeschichte einmal ausgesehen hat. An dieser Klippe scheiterte die Oktoberrevolution.
Achim Lippmann 60329 Frankfurt (Main)
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