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  • Politik
  • Esoterik-Messe in Bremen: Kritik an rechten Wurzeln

Konjunktur des Übersinnlichen

  • Torsten Borchers
  • Lesedauer: 3 Min.

Die »Ökologische Linke« um Jutta Ditfurth sowie ein Bündnis studentischer und linker Organisationen bliesen zum Sturm gegen den am Wochenende in Bremen tagenden Kongreß »Visionen menschlicher Zukunft« sowie die Messe »Natürlich leben '97«. Geholfen hat's nicht viel: Tausende Esoterik-Fans pilgerten in die Hansestadt.

»Das Übersinnliche hat Hochkonjunktur«, sagte Colin Goldner, Autor und kritischer Psychologe aus München. Über 10 000 einschlägige »Institute«, »Heilpraxen« und andere Einrichtungen gebe es allein im deutschsprachigen Raum. Acht Millionen Menschen seien New-Age-Praktiken zugetan.

Esoterik galt früher als »Geheimlehre«, heute ist es ein expandierender Markt, in dem gigantische Umsätze erreicht werden. Kaum ein Verlag, der nicht eine Esoterik-Reihe anbietet, in der über Edel-

stein-Therapie, Rebirthing, Lichtwesen, positives Denken, geheimes Wissen und ähnliches informiert wird.

Ein Großteil der esoterischen Literatur sei »völkisch und reaktionär«, warnte Goldner während einer Veranstaltung gegen den Kongreß in Bremen. Das »Verlöschen minderer Rassen« sei unumgänglich, oder der Holocaust habe einen kosmischen Sinn, heißt es nach Goldners Angaben in den Schriften prominenter Esoterik-Autoren, die Massenauflagen erreichen.

»Heutige Esoteriker wähnen sich gerne als Avantgarde eines noch nie dagewesenen Denkens. Diese Ideen sind keineswegs originär. Sie entstammen im wesentlichen der Theosophie, einer Mixtur mystischer und okkulter Traditionen, die bis ins frühe Mittelalter zurückreichen«, hat Goldner festgestellt. Die Vertreter des angeblich »neuen Bewußtseins« führten lediglich die Ideologie der Theosophen fort. »All das Rassistische, Antisemitische, Faschistoide bleibt unterschwellig verborgen«, daher diagnostizierte Gold-

ner den meisten New-Age-Anhängern eine »tatsächliche Ahnungslosigkeit«. Nach« Meinung der Journalistin Jutta Ditfurth dienen Jenseitskult und der Glaube an eine »höhere Ordnung« nur der Entpolitisierung und der Vorbereitung von totalitärem Denken. »In sehr wesentlichen Elementen« gebe es Übereinstimmungen zwischen Esoterik und Faschismus. Einzelnen Referenten des Kongresses wies Ditfurth Verbindungen zu rechtsradikalem Gedankengut und rechtsgerichteten Organisationen nach. »Der Kongreß trägt dazu bei, daß sich faschistoides Gedankengut ausbreitet«, formulierte sie spitz. Der Kongreßveranstalter wies Ditfurths Vorwürfe zurück und zeigte sich »erschüttert«. »Als »unerträglich« bezeichnete Bremens Bürgermeister Dr. Henning Scherf, der auch Schirmherr der Veranstaltung war, die Vorwürfe. »Das ist diffamierend und hat nichts mit Aufklärung zu tun.« Ditfurth habe »die political correctness verletzt«, so Scherf in seiner Eröffnungsrede. Der Kongreß sei ein Ort für »Leute mit Orientierungswünschen und -angeboten« und die Hansestadt Bremen »ein Platz, in dem Diskussionen geführt werden«. Man solle zum Stein des Anstoßes werden, anstatt Steine schmeißen, forderte die Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil. Die Uni-Professorin sitzt im Kongreßbeirat. Ditfurths Vorwürfe seien »nicht nur Diffamierung, sondern auch Verhinderung einer wichtigen Diskussion«. »Politischer

Verstopfung muß abgeholfen werden«, rief sie in Richtung Kongreß-Kritiker

Gerade die Kritik bescherte der Veranstaltung mehr Aufmerksamkeit, als sie verdient hätte. Die Absagen einzelner prominenter Gäste sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht ein einziger sich kritisch mit den Inhalten oder Referenten des Kongresses auseinandersetzte. Vielmehr war die Angst um die Persönliche Reputation größer als der Verlust des Honorars.

Während sich am Wochenende Linke in einem »Antivisionen-Workshop« kritisch mit esoterischen Inhalten auseinandersetzten, beschäftigten sich die Kongreßbesucher einen Steinwurf weit entfernt mit »Strahlen der Wahrheit«, Bioenergetik und »emotionaler Energie«. Auffällig war, daß die Besucher zum überwiegenden Teil Frauen waren und zum Mittelstand zählten. Eine andere Klientel hätte sich wohl auch die Eintrittspreise von 25 Mark für nicht einmal zweistündige Podiumsdiskussionen und 150 Mark für Tagesworkshops nicht leisten können. 410 Mark waren für den Gesamtkongreß zu berappen.

Esoterik ist nicht per se gefährlich. Es scheint jedoch sinnvoll und notwendig, sich mit unheilvollen Tendenzen in dieser Szene zu beschäftigen und sich klar von diesen zu distanzieren. Daran haben, auch das zeigte der Kongreß, jedoch nur wenige wirklich Interesse.

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