Spät essen macht dick und Cholesterin ist gefährlich

In der Medizin kursieren Halbwahrheiten und Irrtümer, zwei Bücher decken sie auf

  • Lesedauer: 4 Min.
Ist Schwitzen gesund? Sterben Manager häufiger an Herzinfarkt? Nirgendwo sonst ist der Wissenstand so flüchtig und die Fortschrittsgläubigkeit so groß wie in der Medizin. Das betrifft im übrigen auch die Ärzte. Der Mediziner und Wissenschaftsjournalist Werner Bartens hat die populärsten Postulate gesammelt und auf ihre Richtigkeit überprüft. Dabei hat er ganz Erstaunliches herausgefunden. Viele der Weisheiten und Sprüche, an die wir noch immer glauben, sind längst vom Stand des Wissens überholt. Praktisch geordnet und kurzweilig unter Angabe der Wissensquelle niedergeschrieben ist die Lektüre von Bartens Buch durchaus eine sinnvolle Beschäftigung - sie kann der Gesundheit nutzen. Ein zweites Buch von Jürgen Bräter widmet sich dem Wahrheitsgehalt der angeblichen Volksweisheiten. Darunter sind ebenfalls viele Ratschläge medizinischen Charakters, die als unumstößlich gelten, aber schlichtweg Unsinn sind.Im folgenden einige Beispiele aus dem Lexikon der Medizin-Irrtümer.
»Verdreht«man als Kind die Augen oder schielt aus Spaß, können diese »stehen bleiben«.
Dies ist eine populäre Wandersage. Dabei handelt es sich eindeutig um einen Einschüchterungsversuch. Die Augen sind nämlich äußerst beweglich und lassen sich mit unabhängigen Muskeln von allen Seiten verschieben und »verdrehen«. Augenärzten ist kein Fall bekannt, in dem sich Schielen oder eine andere Fehlstellung der Augen durch solche Kinderscherze entwickelt hat.

Wer mit der Taschenlampe im Bett liest, verdirbt die Augen.
Wahrscheinlich stammt die Warnung aus der Zeit, da Kerzen knapp waren. Dabei hat Schummerlicht keinen Einfluss auf die Sehschärfe der Augen und schädigt sie auch nicht.
Durch Rasieren des Bartes, der Beine oder anderer Körperregionen wird Haarwuchs angeregt.
Man kann sich rasieren so viel und wo immer man will - der Haarwuchs wird dadurch nicht angeregt und auch nicht stärker.

Hoher Salzkonsum erhöht den Bluthochdruck.
Bis heute wurde nicht eindeutig nachgewiesen, dass viel Salz im Essen wirklich gefährlich ist.

Männer können nicht an Brustkrebs erkranken.
Auch Männer können Brustkrebs bekommen und daran sterben. Jährlich erkranken in Deutschland rund 400 Männer daran. 1999 sind in Deutschland 182 Männer an Brustkrebs gestorben.

Ein niedriger Cholesterinwert ist gesund und verlängert das Leben.
Ein niedriger Cholesterinspiegel mag in den meisten Fällen ein Zeichen für gute Gesundheit sein, für die richtige Ernährung und ausreichend Bewegung. Andererseits kann er auch auf bestimmte Krankheiten hinweisen: Aids, Leberschäden, Schilddrüsenüberfunktion, Mangelernährung und chronische Blutarmut. Im Alter ist ein niedriger Cholesterinspiegel sogar ein ungünstiges Zeichen: Ältere Krankenhauspatienten und Heimbewohner mit sehr niedrigen Cholesterinwerten haben nämlich ein erhöhtes Risiko, früher zu sterben als die Gleichaltrigen mit höheren Werten. Bei älteren Patienten spricht ein sinkender Cholesterinspiegel für eine schlechte Prognose.

Ein üppiges Mahl am Abend macht dick.
Es ist egal, wann man am Tag die Kalorien zu sich nimmt. Entscheidend ist die Gesamtmenge. Es gibt keine Tages- oder Nachtzeit, zu der Essen besonders ansetzt. Womöglich entstand die Vorstellung, dass Essen am Abend dick macht, weil man glaubte, dass die Verdauung und die Stoffwechselvorgänge ruhen, wenn der Mensch sich ausruht oder schläft. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall. In Ruhe ist der Teil unseres die inneren Organe versorgenden Nervensystems aktiver, der Entspannung und Verdauung reguliert. Dieser Teil des Nervensystems wird Parasympathikus genannt. Er stimuliert die Darmtätigkeit. Sein Gegenspieler, der Sympathikus, ist für Abwehr-, Kampf und Fluchtsituationen zuständig und weniger aktiv, wenn wir ruhen.

Herzinfarkt ist eine typische »Managerkrankheit«, weil Führungspersonen häufiger daran sterben.
Gesellschaftlich gesehen war der Herzinfarkt noch vor zwanzig Jahren der Heldentod der Führungskräfte. Inzwischen weiß man: Mittlere Angestellte und Arbeiter, die keine Karriere gemacht haben und in ihrem beruflichen Fortkommen seit Jahren auf der Stelle treten, sind weitaus häufiger von einem Herzinfarkt betroffen.

Nach dem Tod wachsen Haare und Fingernägel weiter.
Dieser Eindruck beruht auf einer optischen Täuschung. Weil die Haut sich schon bald nach dem Tod zusammenzieht, ist der Abstand zwischen Fingerkuppe und Fingernägeln dann größer als zu Lebzeiten. Das liegt am Flüssigkeitsverlust der Haut.

Ohrenschmalz muss aus gesundheitlichen Gründen regelmäßig entfernt werden.
Ohrenschmalz ist nützlich und sollte deshalb nicht so oft entfernt werden. Es fängt Dreck, Bakterien und Pilze ab, damit diese nicht tiefer ins Ohr eindringen können, und enthält spezielle Enzyme, die in der Lage sind, die Zellwände von Bakterien zu zerstören und die Krankheitserreger zu vernichten. Insofern ist Ohrenschmalz nicht nur ein effektives mechanisches Hindernis, sondern enthält einen bakteriziden Abwehrstoff.

Schwitzen ist gesund.
Eine positive Wirkung auf die Gesundheit ist nicht bewiesen.

Der Schlaf vor zwölf Uhr ist am gesündesten.
Dabei scheint es sich weniger um eine medizinische Weisheit als um ein probates Mittel zu handeln, Kinder oder jugendliche Nachtschwärmer früher ins Bett zu bekommen. Womöglich rührt sie Vermutung daher, dass die ersten zwei, drei Stunden des Schlafes am tiefsten sind. Und je tiefer der Schlaf, desto größer gemeinhin die Erholung.


BUCHTIPPS
Werner Bartens: Lexikon der Medizin-Irrtümer, Vorurteile, Halbwahrheiten, fragwürdige Behandlungen, Eichborn, geb., 350 S., 22,90 Euro
Jürgen Bräter: Bier auf Wein, das lass sein. Kleines Lexikon der unsinnigen Regeln und Ermahnungen, Eichborn Verlag, 160 S., geb., 12,95 Euro

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