Löcher im Gehirn, Lücken in der Forschung
Bei der Suche nach Auslösern der Multiplen Sklerose tappt man im dunkeln
Von Mia März
Eine fetthaltige Hülle um jede Nervenfaser sorgt dafür, daß im Hirn alles in geordneten Bahnen verläuft. Sie isoliert die einzelnen Leitungen voneinander - damit getrennt bleibt, was nicht zusammengehört. Doch bei manchen Menschen wird diese Schutzschicht Opfer des körpereigenen Abwehrsystems - sie erkranken an Multipler Sklerose (MS). Solche Defekte werden mit einem modernen diagnostischen Verfahren, der Kernspintomographie, als regelrechte Löcher im Zentralen Nervensystem sichtbar Von den Krankheitsschüben erholen sich viele Patienten wieder; anderen geht es nach jedem Anfall etwas schlechter Bei einer dritten Gruppe schreitet die Krankheit ohne abgrenzbare Schübe chronisch fort.
Was löst die selbstzerstörerischen Attacken der Abwehrzellen aus? Warum leiden Frauen etwa doppelt so häufig daran wie Männer? Welche Faktoren bewir-
ken, daß MS in Zonen mit gemäßigtem Klima viel häufiger auftritt als in anderen Regionen? Das Zusammentreffen von mehr als tausend Experten auf dem jüngsten Kongreß der europäischen Multiple-Sklerose-Gesellschaften in Istanbul konnte diese alten Fragen nicht klären. Sie standen auch nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Beherrscht wurde die Szene statt dessen von diversen Pharmafirmen, die bestrebt waren, ihre in den letzten Jahren entwickelten Medikamente ins rechte Licht zu rücken.
Zu den Hoffnungsträgern gehören bestimmte Interferone. Bekannt wurde diese Gruppe Itörpereigener Eiweiße durch ihre Wirkung gegen Viren und Tumorzellen. Zwar erfüllten sich die geweckten Hoffnungen auf durchschlagende neue Krebstherapien nicht. Doch zeigten Studien in den letzten Jahren, daß Interferonpräparate bei manchen MS-Patienten die Krankheitsschübe seltener werden lassen. Sofort entwickelte sich ein hart umkämpfter Markt. Denn MS ist in Europa die häufigste zu Behinderungen füh-
rende Nervenerkrankung; sie befällt etwa eine von tausend Personen.
Interferone werden heute in großen Mengen gentechnisch gewonnen. Zuerst wurden Präparate angeboten, die von Bakterien produziertes Interferon enthalten. Inzwischen sind auch Medikamente verfügbar, die aus Kulturen von Säugerzellen stammen. Diese sollten theoretisch besser verträglich sein, da sie wie das menschliche Interferon einen Zuckeranteil enthalten, der dem von Bakterien erzeugten Molekül fehlt. Doch die Akzeptanz bei den Patienten hängt oft von ganz anderen Faktoren ab: Einige kommen am besten mit einem Medikament zurecht, das der Arzt einmal wöchentlich in die Muskulatur spritzt. Andere nehmen die Dinge lieber selbst in die Hand und ziehen ein Mittel vor, das sie selbst unter die Haut injizieren können. In der Wirksamkeit aber sind die Unterschiede - allem anders lautenden Kriegsgeschrei der Pharmafirmen zum Trotz - eher gering. Keines der Medikamente verspricht Heilung; das Krankheitsgeschehen wird allerdings, vor allem
im Frühstadium der MS, bei einem Teil der Patienten verzögert.
Beeinträchtigungen durch MS entwikkeln sich meist langsam. So dauert es im Durchschnitt 15 Jahre, bis ein Patient nicht mehr normal gehen kann. Für Betroffene ein Trost. Doch schlecht für die Pharmaindustrie, wenn sie nachweisen möchte, daß ihre Präparate auf Dauer Behinderungen vermeiden - so lange läuft keine klinische Studie. Registriert werden statt dessen kurzfristig meßbare Veränderungen: die Anzahl der Krankheitsschübe, vergleichsweise geringfügige Verschlechterungen des Befindens oder die Läsionen (so nennen die Mediziner die im Kernspintomographen sichtbaren Schäden) im Hirn. Typisches Ergebnis einer zweijährigen Studie: Bei 30 Prozent der MS-Kranken, die Scheinmedikamente (Placebo) erhielten, verschlechterte sich der Zustand um einen Punkt auf einer 10 Stufen umfassenden Skala. Dagegen ging es nur 18 Prozent der mit ß-Interferon Behandelten schlechter. Ein meßbarer Unterschied.-Ob sich aber daraus auf den längerfristigen Krankheitsverlauf schließen läßt, ist ungewiß. Bisher kann keines der Präparate für sich in Anspruch nehmen, es würde das Fortschreiten der MS dauerhaft bremsen.
Wo die Krankheitsverläufe sich so extrem unterscheiden, liegt die Frage nahe: Gibt es überhaupt die MS, oder verbergen sich dahinter mehrere Krankheiten? Eine endgültige Antwort blieb auch der amerikanische Neurologe Brian Weinshenker schuldig. Doch stellte er in Istanbul fest,
die derzeitigen Kriterien für eine Diagnose seien »willkürlich ... und nicht auf alle Fälle anwendbar«. Insgesamt trügen sie eher zu Verwirrung von Patienten und Ärzten bei.
Versuche, ein »MS-Gen« oder wenigstens eine verantwortliche Gruppe von Erbanlagen dingfest zu machen, sind gescheitert. Zwar - so Neil Robertson aus Cambridge - sind in manchen von MS betroffenen Familien bestimmte Genkombinationen gehäuft. Doch auch Personen ohne solche Erbanlagen erkranken an MS. Wer einen eineiigen Zwilling mit MS hat, wird dennoch in zwei von drei Fällen selbst nicht erkranken. Bestimmte Erbanlagen erhöhen zwar das Risiko, können jedoch allein die Krankheit nicht entfesseln. Auf die Frage nach den auslösenden Umweltfaktoren lautete die Antwort auf dem Kongreß wie schon in den Jahren zuvor: Wahrscheinlich irgendwelche Viren. Was wohl als vornehme Umschreibung für »Wir haben keine Ahnung« gelten kann. Nicht ein einziger der rund 90 Vorträge befaßte sich mit diesem Rätsel, während sich etliche Forscher eifrig der Gen-Analyse widmeten. Die Möglichkeit psychischer Auslöser, wie sie bei anderen immunologischen Erkrankungen auftreten, rückte schon gar nicht ins Blickfeld. Und so wird es wohl noch länger dauern, bis sich klärt, welche Irrlichter das Immunsystem auf Abwege leiten. Von einer ursächlichen Therapie der MS ist die Medizin, trotz gewisser Fortschritte in der Behandlung der Symptome, noch weit entfernt.
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