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Kibbuz »Samar«

Junge kehren zu Wurzeln der Bewegung zurück Von Detlef Balke

  • Lesedauer: 4 Min.

Bryan sieht den Kibbuz als ideale Form für kreatives Arbeiten

Foto: Detlef Balke

Degania gilt als erster Kibbuz. Gegründet wurde er 1909/10 durch jüdische Sozialisten aus Rußland. Das Wort »Kibbuz« setzte sich in den 20er, 30er Jahren durch und bezeichnet eine größere Gruppe. Die entschiedensten Vertreter der Kibbuzbewegung sahen ihn als Teil der jüdischen Arbeiterbewegung und als Modell der künftigen sozialistischen Gesellschaft in Palästina. Vor allem vor der Staatsgründung trugen Kibbuzim zur Integration der jüdischen Einwanderer bei und bildeten das Rückgrat der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina. Da sie oft die äußersten jüdischen Besiedlungspunkte bildeten, dienten sie später auch der Sicherung der Grenzen des israelischen Staates und stellten den Kern der Armee. Heute gibt es rund 270 Kibbuzim.

Das offizielle Israel konnte sich stets auf ihre Bewohner, die Kibbuznikim, verlassen. Doch waren die Beziehungen nie völlig frei von Spannungen. Mit dem ersten Übergang der Staatsgewalt von der Arbeiterpartei an den Likud 1977 gingen sie in teils verdeckte, teils offene Feindschaft über. Auf den geförderten Trend zum ökonomischen Liberalismus geben

viele Kibbuzim nun neoliberale Antworten und verzichten zunehmend auf ihr egalitäres Produktions- und Konsumtionsprinzip. Wirtschaft und Gesellschaft werden getrennt, Manager ersetzten Ämterrotation und Mehrheitsentscheidungen. Dagegen wehren sich nicht nur ideologiefixierte Pioniere.

Bereits seit den 70er und 80er Jahren gibt es eine Bewegung zurück zu den Wurzeln: weg vom lähmenden Regelwerk der Kibbuz-Bürökratie und vom Konformismus, hin zu neuen Aufgaben und zur Spontanität. Unwirtliche Landstriche, strukturschwache Siedlungen oder die »Zweites Israel« genannte größere Bevölkerungsgruppe sozial Schwacher bieten auch heute genügend Betätigungsfelder für solches Engagement. Abseits der Zentren, im Norden des Negev, liegt Sderot, eine typische Entwicklungsstadt, nicht gerade wohlhabend. Einwanderer aus Nordafrika, Äthiopien, der einstigen UdSSR bestimmen das Bild. Wohnungen sind hier billiger. Über zwei Aufgänge in einem älteren Quartier von Sderot verteilt sich Migvan (»vielfarbig«) - eine Gemeinschaft von 20 bis 30 Mitgliedern aus traditionellen Kibbuzim: Junge Paare und Alleinstehende in den 20ern und 30ern mit ihren Kindern, von der Gründergeneration leben nur noch wenige.

Frischen Wind in die Apathie von Sderot tragen seit 1987 u. a. Noamika Ben-

Zion und Nitay Schreiber. Ihr Kibbuz Migvan betreibt 50 Projekte in der Stadt und deren Umgebung: Jugendklubs, Pflege von Grünflächen, computergestütztes interaktives Lernen. Auch der Broterwerb außerhalb der Kibbuzprojekte bringt Geld in die gemeinsame Kasse. Das Leben ist wie in anderen Kibbuzim organisiert. Der Speisesaal ist ein größeres Zimmer einer gemeinsamen Wohnung. Am Freitagabend trifft man sich zu einer Schabbatfeier in Kibbuztradition; einmal in der Woche ist Versammlung oder ein Seminar. Es gibt keine Fahnen in diesem Kibhuz. Die jungen Leute von Migvan halten nicht viel von Symbolen. Wohl auch um die Beziehungen zur Stadt und zu den

meist konservativen, religiös-orientierten Nachbarn nicht zu stören.

Ein anderes Beispiel, wie junge Leute sich ihren eigenen Weg suchen, bietet der Kibbuz Kishor. Er war von seinen Gründern verlassen worden. Im galiläischen Steingeröll ist Landwirtschaft unrentabel, und für anderes fehlten die Mittel. Die leerstehenden Gebäude - Wohnhäuser, ein Kindergarten, Werkstätten und Stallanlagen - sollen jedoch wieder mit Leben erfüllt werden. In Vorbereitung ist Kishorit, eine als Kibbuz geführte Siedlung für betreutes Wohnen mit Behinderten. Mit ihren Plänen stoßen Sohar und ihre Freunde auf die Skepsis gerade älterer Kibbuznikim, dabei hat ihr Vater

den Anstoß gegeben. Auch Shlomo Regev und seine Frau leben weiter im Kibbuz Kfar HaChoresh. Vielleicht kommt er irgendwann nach, hofft die Tochter.

Der Wüstenkibbuz Samar nahe dem Touristenparadies Eilat lockt seit 1976 wider den Stachel. Auch hier hatten junge Kibbuznikim einen neuen Anfang gewagt. Skandale löste nicht nur ihr anarchistisches Selbstverständnis mit Verzicht auf Arbeitsorganisation und formale Demokratie aus. Über illegale Drogen, freie Liebe und gemeinsames Nacktbaden kursieren noch heute wilde Gerüchte. Bereits der Name dieses Kibbuz ist umstritten. Das hebräische Wort Samar steht für »sträuben«. Bryan Medwed erklärt den Namen aber mit der arabischen Bezeichnung für »Papyrus«. Bryan ist verantwortlich für die Dattelzucht, die Abwässer von Eilat nutzt, für die Solaranlage und fast alles Technische. Anfang der 80er Jahre aus Chicago in den Negev gekommen, ging er zuerst mit seiner Frau Rachel nach Grofit. Wegen der Bürokratie (»schlimmer als in der Sowjetunion«) zogen sie bald ins nahe Samar.

Heute ist Samar ein sehr erfolgreicher Kibbuz mit gut 100 jungen Bewohnern, darunter ein Beduine. Hier wird an alten Kibbuz-Prinzipien festgehalten. Statt individueller Budgets gibt es die gemeinsame freie Kasse, und nur einige Absprachen regeln die Arbeitsteilung. Neben der Dattelzucht gehören Maschinenbau, Rollrasen und Fischzucht zu den Einnahmequellen. Hier ist authentisches Kibbuzland, mit einer Ausnahme sind alle Siedlungen dieser Negev-Region Kibbuzim, die in Verwaltung und gemeinsamen Unternehmungen eng zusammenarbeiten.

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