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Kritische Wälder

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 4 Min.

Respekt vor diesem Alter und Bewunderung für Annemarie Auer, sich von Krankheit nicht besiegen zu lassen. Ich stelle mir die zierliche kleine Person wie auf einer Theaterbühne vor, wo sie mit dem Florett ausgeklügelter Sprache den plumpen Terminator aller Dinge in die Flucht schlägt.

Dabei ist ihr Platz eher unten zu suchen, im Parkett des Kritikers. Als ihr die Universität Halle 1983 die Ehrendoktorwürde antrug, war dies eine längst fällige Auszeichnung - sieht man vom halbierten Heinrich-Mann-Preis ab, den sie 1976 mit Siegfried Pitschmann teilte.

Ich erinnere mich an gemütliche Runden im PEN-Zentrum DDR, wo bei Kuffee und Gebäck, im Blickfeld den ominösen

Checkpoint Charlie, after hours so brisante Fragen aufgeworfen werden konnten wie: Gibt es einen Fortschritt in der Kunst? Ärger noch: Haben wir in der DDR eine Essayistik?

Wir hatten die Essays von Annemarie Auer, in mehr als einem Buch gesammelt. Nun heißt das Fremdwort im Ursprung Versuch, und die Versuchung des Essayisten am Autor vorbeizureden, ist, wie jeder Schreibende weiß, ziemlich häufig. In der DDR kam ein anderes Problem hinzu. Es ist die alte Frage, wer von beiden schneller läuft, Achilles oder die Schildkröte. Denn wo saß denn der Sprengsatz in den Essays der Kollegin? War sie am Ende schneller als die Literatur des real existierenden Sozialismus, oder konnten wir, die Produzenten, uns da eine Scheibe abschneiden? Mißverständnisse ohne Ende und verschnupfte Gesichter Eine kanonisierte Kunstbe-

trachtung reagiert auf den frei vagabundierenden Essay wie der vom Pfeil des Kritikers getroffene Autor. Dennoch, von Auer wahrgenommen zu werden, erleichterte den Zugang zum Parnaß. Man lese einmal, in unserer Zeit geraffter Meinung, den Essay über Irmtraud Morgner Elias Canetti, dessen Epochenroman »Die Blendung« Annemarie Auer eingehend beschrieben hat, fühlte sich verstanden. Nebenbei klingt in diesem mehrfach gedruckten Aufsatz in der Nähe zu den österreichischen Dingen die Liebe zu Eduard Zak, ihrem zu früh verstorbenen Lebensgefährten, an. Canetti lobte nicht nur »die Kraft und Prägnanz« der Arbeit; in einem Brief aus dem Jahr 1977 entdeckt der spätere Nobelpreisträger: »... daß wir über die >Provinz des Menschern in einer Art kontinuierlichem Gespräch begriffen sind«. Nun wird die Provinz des Menschen

schnell provinziell, sobald der Kritiker einen Alleingang wagt. 1977 publiziert Annemarie Auer in »Sinn und Form« einen Aufsatz zu Christa Wolfs »Kindheitsmuster« unter dem Titel »Gegenerinnerung«. Es ist vielleicht das erste Mal, daß die Essayistin privat wird, ohne allzu deutlich von sich zu sprechen. Sie kam ja, die am 10. Juni 1913 in Holstein geborene Tochter eines Seemanns, der am Kieler Matrosenaufstand teilgenommen, aus einem existentiell antifaschistischen Haus. Als junges Mädchen wurde sie für die Kriegsindustrie dienstverpflichtet. Der Umgang mit Büchern, Studium der Germanistik, Arbeit als Redakteurin, das sind Erfahrungen unterm Prägestempel DDR.

Der Aufsatz, der an einem Idol breitester Leserschaft kratzte, meinte wohl auch, 32 Jahre nach Kriegsende, in welchem Maße geht die DDR mit der Vergangenheit um, und werden da nicht, in der Rezeption mancher Bücher, Akzente versetzt je nach der Tagespolitik? Bei vordergründiger Lektüre ergab sich der Minderwertigkeitskomplex jedes Kritikers, der nur »reden« und nicht »bilden« kann, um hier einmal Goethe indirekt zu zitieren. Ein Aufschrei ging durch die gebil-

dete Nation. Was in angelsächsischen Ländern, in Frankreich auch, zum kritischen Geschäft gehört, eine Berühmtheit in anderer Beleuchtung zu zeigen, wurde 1977 zum Politikum. Franz Fühmann, bis dato ein Bewunderer der Essayistin, wetterte in heiligem Zorn. Im PEN-Zentrum geriet die Minderheit, die zu Auer hielt, in den Ruch, zur Mafia der Anti-Dissidenten (das Wort freilich gab es noch nicht) zu gehören.

Ich finde, aus der hoffentlich abgeklärten Warte unserer Gegenwart (ich gebe zu, Optimist zu sein) sollten die Grabenkämpfe der Vergangenheit in einen größeren Zusammenhang gestellt werden: Die Kunst des Essays mag uns da helfen. Die Arbeit des Kritikers, so hatte Annemarie Auer in ihrer Hallenser Rede erklärt, »ist nicht die eines Beckmessers und Kunstrichters. Es ist eine vermittelnde, öffentliche Tätigkeit«. Es geht um ? die Öffentlichkeit des Subjektiven.

Zu entdecken wären Erzählungen, Memoiren und Gedichte dieser Kritikerin. Respekt für ein Werk und uns einmal wieder einen erbaulichen Spaziergang durch die »Kritischen Wälder« Annemarie Auers. Und: Hieb und Stich der Florettfechterin.

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