Der Schildbürgerstreich von Lanze

Wie sich ein kleines Dorf im Wendland gegen die Umbenennung der einzigen Straße wehrte

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 5 Min.
Lanze ist ein verschlafenes Nest im Süden des Wendlandes. Das liegt in Niedersachsen und wurde vor allem durch das inzwischen nicht mehr ganz so unbekannte 20 Kilometer entfernt gelegene Gorleben berühmt. Seit Jahrzehnten wehrt es sich dagegen, dass ein Salzstock in seiner Nähe als Atomendlager genutzt wird. In Lanze gibt es 30 Häuser mit rund 90 Menschen. Hier wohnen noch mehrere Generationen unter einem Dach, in Lanze setzt man auf die Familie. Sie ist so etwas wie ein Fundament im Sturm gegen die harte Zeit. Nichts hatte das Leben in dem einzeiligen Dorf aus seinem Takt bringen können. Bis vor eineinhalb Jahren plötzlich Schluss mit der Ruhe war. Da vergriff man sich an der einzigen Straße, die tagsüber von vielleicht fünf Autos genutzt wird. Seitdem ist das Dorf in Aufruhr. Was war geschehen? Am 15. Januar 2004 bekamen Lanzes Bewohner einen Brief vom Samtgemeindebürgermeister der Samtgemeinde Gartow, gewissermaßen das Oberhaupt von fünf Gemeinden und einem gemeindefreien Forstgut. Auch Bürgerin Antje Fäseke bekam diesen Festsetzungsbescheid. In dem wurde ihr mitgeteilt, dass ihre seit Jahrzehnten gültige Adresse »Lanze Nr. 20, 29491 Prezelle« ab sofort »Lanzer Dorfstraße 20, 29491 Prezelle« lautet. Antje Fäseke stutzte. Weder war sie gefragt noch darüber informiert worden, dass ihre Adresse geändert werden sollte. Sie hätte nämlich nicht zugestimmt, sagt sie. Unabhängig davon, dass sie ihre Personalpapiere ändern müsse, würden ortsunkundige Zulieferer und Fremde die Straße und auch den Ort nicht mehr finden. Lanze ist eine Teilgemeinde und gehört zur Hauptgemeinde Prezelle, das fünf Kilometer von Lanze entfernt liegt. »Alle Unwissenden würden in Prezelle und nicht in Lanze nach der Lanzer Dorfstraße suchen«, sagt Antje Fäseke. Sie ist 45 und wohnt seit über neun Jahren hier. Die Umbenennung hielt Antje Fäseke für einen Schildbürgerstreich der Samtgemeinde Gartow und klingelte bei Beate Fabel, die als stellvertretende Bürgermeisterin von Prezelle die Lanzer Bürger im Prezeller Gemeinderat vertritt. Der tagt drei bis vier Mal im Jahr und hängt seine Informationen in Lanze ans Schwarze Brett an der Bushaltestelle. Dort habe im Januar 2003 - also ein Jahr vor der Bekanntgabe der Umbenennung - sowohl die Einladung zur Sitzung als auch die Tagesordnung zur selbigen geklebt, sagt Beate Fabel. Acht Tage lang, für jeden einsehbar. Dort habe jeder lesen können, dass es u.a. um »die Neufindung der Straßennamen in Prezelle« gehen soll. Sie habe auch, sagt Beate Fabel, einige Lanzer mündlich informiert. »Doch das interessierte die nicht. Hätte ich erzählt, ich lasse mich von meinem Mann scheiden, hätte das in Windeseile jeder gewusst.« Beate Fabel meint im Gegensatz zu Antje Fäseke, dass es richtig ist, wenn das Dorf endlich einen Straßennamen erhält. Denn auch Prezelle und Lomitz hätten eine Dorfstraße. Der beste Streit war vom Zaun gebrochen. Das hatte es in Lanze noch nie gegeben. Antje Fäseke ist hartnäckig. Sie wollte Schlimmes verhindern und legte Widerspruch in Gartow ein. Der wurde mit dem Argument abgewiesen, die Samtgemeinde führe nur das aus, was ihr angewiesen worden sei. Schließlich komme der Beschluss aus der Hauptgemeinde Prezelle. Da muss es doch einen Weg geben, glaubte Antje Fäseke an das bundesdeutsche Rechtssystem und kniete sich in die Untiefen von Bürokratie und Gesetzbüchern. Sie kam zu dem Entschluss, dass nur noch ein Bürgerbegehren hilft. Einige Wochen lang stiefelte Antje Fäseke von Haus zu Haus und sammelte Unterschriften. Um ein Bürgerbegehren wirksam werden zu lassen, sind die Signets von zehn Prozent aller Wahlberechtigten nötig. In Prezelle leben 292 Menschen, in Lomitz 110 und in Lanze 88. Macht zusammen 450. 45 Unterschriften hätte Antje Fäseke gebraucht. Bekommen hat sie 63. Inzwischen, so wurde im Dorf beobachtet, ist das Verhältnis zwischen Beate Fabel und Antje Fäseke »sehr abgekühlt«. Früher tranken sie auf dem Schützenfest ein Bier zusammen. Wenn sie es heute tun, dann sei das nicht immer ganz freiwillig. Das Dorf spaltete sich. Antje Fäseke gehört zu denjenigen, die die Grünen wählen und sich gegen die Atomenergie engagieren. Beate Fabel ist Mitglied der CDU und vertritt parteipolitisch etwa die Hälfte der Wendländer Landwirte. Sie will Arbeitsplätze, die seit dem Kampf gegen die atomare Nutzung des Salzstocks weggefallen sind. Beate Fabel sagt, das Bürgerbegehren sei ein Komplott gegen sie, da das Gerücht umgehe, die Straßenumbenennung koste Geld. »Aber das ist Quatsch.« Im April 2004 tagte der Gemeinderat erneut. Antje Fäseke hatte alles gut vorbereitet, sie wusste die Bürger hinter sich und war sich sicher. Das Bürgerbegehren aber wurde abgewiesen. Wegen eines Formfehlers. Der Text des Begehrens und die Unterschriften standen nicht auf demselben Blatt und neben den Namen fehlten die Geburtsdaten der Unterzeichner. So ein Käse, dachte sich Antje Fäseke. Aber sie gab noch immer nicht auf. Wieder ließ sie die Lanzer unterschreiben, wieder reichte sie das Bürgerbegehren ein. Auf der Tagesordnung am 12. November 2004 las sich das so: »TOP 4: Beratung und Beschlussfassung über ein nochmaliges Bürgerbegehren der Einwohner von Lanze«. Hartmut Heitmann, Bürgermeister von Prezelle, hatte wohl keine Lust auf weitere Debatten und stimmte dem Begehren zu. Auch Beate Fabel sagt: »Es sollte endlich Ruhe einkehren.« So bekamen die Lanzer am 24. Januar 2005 wieder ein Schreiben, in dem ihnen noch einmal eine neue Adresse mitgeteilt wurde. Und die ist die alte.

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