Zwanghaft lernen?

Von Jürgen Amendt

  • Lesedauer: 2 Min.
Die Tragik der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland besteht darin, dass beinahe jeder Politiker oder so genannte Experte meint, sich zu diesem Thema äußern zu müssen. Jüngstes Beispiel: Karl Lauterbach. Der Ökonom hat bislang die Bundesregierung und die SPD in Gesundheitsfragen beraten. Anfang der Woche wagte er sich aufs bildungspolitische Parkett und forderte eine verpflichtende Ganztags-Vorschule für alle drei- bis sechsjährigen Kinder. Die Jahre zwischen dem dritten und sechsten Geburtstag eines Menschen seien für Intelligenz, Lernfähigkeit und beruflichen Erfolg eines Menschen die wichtigsten in seinem Leben. Diese Mischung aus Versatzstücken von Erkenntnissen der Hirnforschung und ökonomischer Kosten-Nutzen-Rechnung ist bedenklich. Aus der Hirnforschung wissen wir in der Tat, dass im Alter von drei bis sechs Jahren die Lernfenster der Kinder im Gehirn besonders weit offen stehen. In dieser Zeit brauchen Kinder Anreize zum Lernen. Dafür braucht es aber keine Vorschul- oder Kindergartenpflicht. Jeder Zwang - gleich ob er für Eltern oder Kinder gilt - hemmt die Bereitschaft zum Lernen. Wer Leistung will, muss ein Lernklima schaffen, in dem die Subjekte sich entfalten können. Das kann in vielerlei Institutionen geschehen: in- und außerhalb der Familie, in- und außerhalb des Kindergartens. Lautenbachs Überlegungen offenbaren die gefährliche Schlagseite, die die bildungspolitische Debatte in Teilen der SPD (aber nicht nur dort) bekommen hat. Die Reform des Bildungswesens wird auf ihren strukturellen Umbau reduziert. Inhaltliche Veränderungen spielen nur noch am Rande eine Rolle. So wird in manchen Bundesländern stolz verkündet, in den vergangenen Jahren mehr Kindergartenplätze für Dreijährige geschaffen oder die Zahl der Ganztagsplätze erhöht zu haben. Über die Qualität dieser Einrichtungen, darüber, ob Kinder dort nicht nur von 8 bis 17 Uhr »abgeliefert« werden, schweigen sich solche »Erfolgsmeldungen« aus. In manchen Teilen der Bundesrepublik wäre es für die Lernentwicklung der Kinder tatsächlich besser, würden sie nicht in den Kindergarten gehen.

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