Streit um das Epos vom Don

Vor 100 Jahren geboren: Michail Scholochow

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.
Die UNESCO rief ein Scholochow-Jahr aus. Die russische Kirche veranstaltet die »Tage des slawischen Schrifttums und der Kultur« zu Ehren des Schriftstellers in Rostow am Don und Nowotscherkassk. Die russische Regierung hält 440 Millionen Rubel bereit, auch für die Verbesserung der Infrastruktur des Dongebiets. Trotzdem will keine Jubelstimmung aufkommen. Während in der Staniza Wjoschenskaja der »Scholochow-Frühling« gefeiert wird, kreuzen in Moskau die Kontrahenten im Streit um den Autor heftiger denn je die Klingen. Was 1928 als Gerücht aufkam, in den 1960/70er Jahren durch Dissidenten im Westen Verbreitung fand, schallt mit neuer Lautstärke aus dem hauptstädtischen Blätterwald: Der »Stille Don«, für den Scholochow 1965 den Literaturnobelpreis erhielt, sei ein Plagiat. Mehr noch: Auch für den zweiten Teil von »Neuland unterm Pflug« und die Kapitel aus dem unvollendeten Kriegsroman »Sie kämpften für die Heimat« könne Scholochows Autorschaft nicht überzeugend nachgewiesen werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht wieder der »Stille Don« (1928/40). Schon 1929, als die Publikation des dritten Bandes gestoppt wurde, verdächtigte man Scholochow, den Roman gestohlen zu haben. 1966 erneuerte der Historiker Roy Medwedjew in London den Plagiatsvorwurf. Scholochow sei mit kaum 20 Jahren viel zu jung und ungebildet gewesen, um ein so reifes Werk zu verfassen. Eine Studie von Irina Tomaschewskaja, die mit einem Vorwort von Alexander Solshenizyn 1974 in Paris herauskam, stützte diese Hypothese. Der Autor des »Stillen Don« sei Fjodor Krjukow, ein 1920 im Bürgerkrieg gefallener Schriftsteller und Anhänger der Weißen. Scholochow, der bereits einige Erzählungen über den Bürgerkrieg geschrieben hatte, sei von der RAPP-Führung als Strohmann benutzt worden, um endlich ein herausragendes Werk der »proletarischen« Literatur präsentieren zu können. Auch wenn eine computergestützte Textanalyse des »Stillen Don« Scholochows Autorschaft wahrscheinlicher machte als die Krjukows, verstärkten neue Fakten die Zweifel. Mehrere Untersuchungen wiesen in Handlung und Figurenführung Brüche und Ungereimtheiten nach, nannten den 1920 in Rostow erschossenen Schriftsteller Weniamin Krasnuschkin alias Viktor Sewski als Autor und schlussfolgerten, Scholochow habe, möglicherweise sogar mit mehreren Helfern, fremde Manuskripte abgeschrieben oder zu Ende gebracht. Andere Literaturwissenschaftler und Journalisten suchen diesen Vorwurf zu entkräften. 1999 teilte das Moskauer Institut für Weltliteratur (IMLI) mit, es habe das Original der ersten beiden Bände für eine horrende Dollarsumme aus privater Hand erworben, 605 von 885 Seiten ließen Scholochows Handschrift erkennen. Apologetisch bezeichnete IMLI-Direktor Felix Kusnezow die Kritik als voreingenommen und antipatriotisch und erklärte, nun seien alle Fragen nach der Urheberschaft hinfällig. Kein Wort darüber, warum das Manuskript über siebzig Jahre lang nicht auffindbar war und bis heute nicht einsehbar ist. Den Leser werden die oft nur ideologisch motivierten Argumente der »Scholochowianer« wie der »Anti-Scholochowianer« nur bedingt interessieren. Er fragt danach, ob die Texte ihm etwas zu sagen haben. Unter diesem Gesichtspunkt wird der »Stille Don« noch lange eines der größten und bedeutendsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts bleiben, auch wenn wir uns heute aufs Neue darüber Klarheit verschaffen müssen, worin seine Größe und Bedeutung besteht. Der Roman schildert das Schicksal der Familie Melechow und der Kosakenschaft in dem Jahrzehnt von 1912 bis 1922. Er beginnt fast idyllisch und endet mit einer blutigen Tragödie, in der sich Väter, Söhne, Brüder, Vettern, Freunde und Nachbarn, häufig ohne erkennbaren Grund, gegenseitig abschlachten. Jeder von ihnen, ohne Rücksicht auf sozialen Status und Rang, ist ein Einzelner, hat seine Stimme, erzählt seine Wahrheit. Vielstimmig baut sich die Erkenntnis auf: »Einen Menschen töten ist leichter als eine Laus knacken.« Grigori Melechow, einer von Hunderten, steht im Frühjahr 1922, nach einem Irrweg durch Krieg, Revolution und Bürgerkrieg, die Heerlager der gleichermaßen demoralisierten Weißen und Roten, an der Schwelle des zerstörten Elternhauses. Er hat seine Waffen, mit denen er so oft tötete, weggeworfen. Sein Leben, in dem er alles auskosten konnte, ist zerbrochen. Er hat alles verloren. Vater und Mutter sind gestorben, der Bruder gefallen. Seine Frau Natalja verblutet, weil sie das dritte Kind nicht will. Axinja, die Geliebte, wird von einer Kugel getroffen. Sein Sohn Mischa, den Grigori im Arm hält - »das war alles, was ihm im Leben geblieben war, was ihn einstweilen noch mit dieser Erde und...Welt verband«. Der Glücksanspruch des Menschen reduziert sich auf das Elementarste - den Willen zur Erhaltung der Art. Selbst die Erde verändert sich angesichts dieser Tragik. Die Natur, nicht bloß Hintergrund, sondern Akteur, verdüstert sich. Himmel und Sonne werden schwarz. Melechow wird vom »wild-schönen Kosaken« zum »Wolf«. Die Tragödien des brudermordenden Volkes, der Kosakenschaft und des irrenden, in den Strudel der Geschichte und des politischen Fanatismus gerissenen und darin zermalmten Einzelnen, verleihen dem Text eine epische Wucht, wie man sie aus Tolstois »Krieg und Frieden« kennt. Doch im Donepos gibt es keine Gerechten und Ungerechten, keine aus der Autorensicht formulierte Moralphilosophie, keinen Trost oder Hoffnungsschimmer. Die totale Zurücknahme des Autors macht hier die künstlerische Stärke des Erzählens aus, die Polyphonie der Stimmen führt den Leser zur Katharsis. Das sichert dem »Stillen Don« einen bleibenden Platz in der Weltliteratur.
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