Ist das Internet ein öffentlicher Raum?

Prozess gegen »Online-Demo« könnte Grundsatzfragen klären

  • Martin Brust, Frankfurt (Main)
  • Lesedauer: 3 Min.
Aus Protest gegen die Abschiebepraxis der Lufthansa hatten Initiativen im Jahr 2001 dazu aufgerufen, die Internetseite der Fluggesellschaft durch massenhaftes Aufrufen lahm zu legen. Ein Frankfurter Gericht muss nun darüber entscheiden, ob das Nötigung war - oder ob die ordentlich angemeldete Aktion unter das Demonstrationsrecht fällt.
Vor Amtsgerichten kommen normalerweise kleinere Delikte zur Verhandlung. Das war auch gestern in Frankfurt (Main) nicht anders. Angeklagt ist der arbeitslose Schreiner Andreas-Thomas Vogel wegen Anstiftung zur Nötigung. Genötigt wurde, so Staatsanwältin Heil, die Lufthansa. Brisant ist das Verfahren, weil es trotz des eher geringen Tatvorwurfs Justizgeschichte schreiben könnte. Denn das Mittel zur angeblichen Nötigung waren Computer, angeklagt ist erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte eine Internet-Aktion. Am 20. Juni 2001 fand in Köln die jährliche Hauptversammlung der Lufthansa AG statt. Wegen ihrer Beteiligung an Abschiebungen - mit Amir Ageeb und Kola Bankole starben bereits zwei Menschen bei ihrer Abschiebung in Lufthansa-Maschinen - stand die Airline damals in der Kritik. Im Rahmen einer Kampagne namens »deportation class« wurde an Flugschaltern, vor Reisebüros oder auf dem Aktionärstreffen des Vorjahres protestiert. Als Fortführung mobilisierten die Gruppen »Kein Mensch ist illegal« und »Libertad!« seit März 2001 zu einer Online-Demonstration gegen die Lufthansa-Internetseite für den Tag der Hauptversammlung 2001. Die Initiatoren riefen dazu auf, die Seite am 20. Juni vormittags so häufig wie möglich aufzurufen. Dazu wurde eine Software bereitgestellt, die solche Seitenabrufe automatisieren und beschleunigen kann. Die Aktion wurde per E-Mail bei den zuständigen Stellen als Demonstration angemeldet. Ziel der Aktion sollte es sein, die Internetseite zu stören oder lahm zu legen, um die Online-Aktivitäten der Lufthansa - etwa Ticketverkauf oder die Übertragung der Rede des Vorstandes auf der Hauptversammlung - zu blockieren. Im Aufruf hieß es: »Wenn Konzerne, die mit Abschiebungen Geld verdienen, ihre größten Filialen im Netz aufbauen, dann muss man auch genau dort demonstrieren.« Rund 1,2 Millionen Zugriffe von 13600 Rechnern aus Die Aktion hatte einigen Erfolg. Die Anklage weiß von rund 1,2 Millionen Zugriffen auf die Internetseite, die von 13600 verschiedenen Rechnern ausgingen. Auf dem Höhepunkt der Aktion sei deshalb die Seite mit einer Ladezeit von drei bis zehn Minuten auffällig langsam gewesen. Zu dem entstandenen Schaden konnte Lufthansa-Justiziarin Bettina Adenauer gestern aber keine allzu konkreten Angaben machen. Dafür gab sie - erstmals - zu, dass die Internetseite acht Minuten lang nicht erreichbar gewesen sei. Worüber sich die anwesenden Vertreter der Protest-Initiativen erfreut zeigten. Denn zuvor hatte die Lufthansa die Behinderungen stets heruntergespielt. Im Prozess präsentierte Adenauer die Rechnungen einer Lufthansa-Tochter sowie externer Zulieferer in Höhe von rund 42000 Euro - für technische Vorbeugemaßnahmen. Sie bezifferte den Schaden darüber hinaus auf gut 5000 Euro für Sicherheitspersonal und nannte Buchungsausfälle, die sie aber nicht beziffern konnte. Ihr Unternehmen habe diese durch den Vergleich mit einem einzigen anderen Buchungstag ermittelt - ein Vorgehen, das sogar bei der Richterin ein Lächeln hervorrief. Der Beschuldigte stellte in einer Erklärung den politischen Zusammenhang her und berief sich auf Grundrechte wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit: »Das Internet ist nicht nur erweiterte Plakatwand für Werbebotschaften oder Regierungspropaganda. Es ist auch nicht nur eine Plattform für Geschäfte. Das Internet ist öffentlich und es gehört allen, die es nutzen.« Prozess und Urteilsverkündung wurden auf den 1. Juli vertagt. Dann soll nach dem Willen der Verteidigung auch Innenminister Schily aussagen, der im Vorfeld der Online-Demo in öffentlichen Stellungnahmen, bezogen auf Nazi-Webseiten, sogar Überlegungen angestellt habe, diese durch Hacker zu lähmen. Ein viel gravierenderer Eingriff als die seinem Mandanten vorgeworfene Aktion, so dessen Anwalt Thomas Scherzberg.

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