Wie der Physik der Äther abhanden kam

Vor 100 Jahren begründete Albert Einstein die spezielle Relativitätstheorie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Jahr 1905 ist für die Wissenschaftsgeschichte ein ganz besonderes Jahr. Denn innerhalb von nur vier Monaten gelangen dem damals 26-jährigen Patentbeamten Albert Einstein gleich drei Durchbrüche in der Physik: Er beschrieb die Quantennatur des Lichts, entwickelte die statistische Mechanik und schuf die spezielle Relativitätstheorie, die unsere Auffassung von Raum und Zeit radikal verändert hat. Und zwar so radikal, dass noch heute viele Menschen bei dem Versuch verzweifeln, sich die Konsequenzen dieser Theorie anschaulich vorzustellen.
Natürlich sind auch Einstein die genialen Ideen nicht in den Schoß gefallen. Im Gegenteil. Mehr als einmal plagte ihn das Gefühl, an der Begründung der Relativitätstheorie zu scheitern. »Ich gebe auf«, sagte er an einem schönen Frühlingstag im Mai 1905 zu seinem Freund und Kollegen Michele Besso, nachdem beide intensiv über die Mängel der damaligen Physik diskutiert hatten. Wie Einstein die darauffolgende Nacht verbracht hat, ist nicht überliefert. Am nächsten Morgen jedoch sei in seinem Kopf »ein Sturm ausgebrochen«, erzählte er später. Der Weg zu einer neuen Physik war frei, und Einstein begrüßte Besso gelegentlich mit den Worten: »Ich danke dir, ich habe das Problem komplett gelöst.«

Rätselhaftes Licht

In knapp sechs Wochen schrieb Einstein die Resultate seines angestrengten Nachdenkens nieder. So entstand der 31-seitige Aufsatz »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, den er am 30. Juni 1905 bei der Fachzeitschrift »Annalen der Physik« einreichte. Anschließend legte er sich erschöpft für einige Tage ins Bett ? und wartete nach dem Erscheinen seines Artikels ungeduldig auf die Reaktionen der Fachwelt. Denn die von ihm untersuchten Probleme stießen auch bei anderen Physikern seinerzeit auf großes Interesse.
Wie diese ging Einstein bei seinen Überlegungen von Widersprüchen aus, die sich bei der Interpretation der Maxwellschen Elektrodynamik ergeben hatten. Stein des Anstoßes war der so genannte Äther, der als Medium für die Ausbreitung der Lichtwellen sämtliche Körper durchdringen sollte, ohne jedoch an deren Bewegung teilzunehmen. Darüber hinaus galt der Lichtäther als absolut ruhendes System, auf welches bezogen alle Bewegungen ebenfalls als absolut angesehen werden konnten.
Wie aber lässt sich die Existenz eines solchen Mediums nachweisen? Bekanntlich bewegt sich die Erde auf ihrer Reise um die Sonne mit einer Geschwindigkeit von rund 30 Kilometern pro Sekunde. Bei dieser Bewegung sollte streng genommen ein »Wind« durch den Äther wehen ? so wie auch bei der Fahrt mit einem schnellen Wagen bei ruhender Luft ein Fahrtwind entsteht. Bedingt durch den Ätherwind müsste die Geschwindigkeit des Lichts in unterschiedlichen Richtungen verschieden sein. Um diesen minimalen Effekt zu messen, führten die amerikanischen Physiker Albert Abraham Michelson und Edward Morley 1887 ein Experiment mit einem hochempfindlichen Interferometer durch. Einen Ätherwind registrierten sie dabei jedoch nicht. Die Lichtgeschwindigkeit erwies sich als konstant und unabhängig von der Bewegung der Lichtquelle und des Beobachters.

Umsturz der Prinzipien

Gleichwohl versuchten einige Physiker verzweifelt, die Äthertheorie zu retten. Einen radikalen Vorschlag machte 1895 der Holländer Hendrik Antoon Lorentz. Er nahm an, dass alle Körper sich bei ihrer Bewegung durch den Äther in Bewegungsrichtung leicht verkürzen.
Dadurch wird die Wirkung des Ätherwindes kompensiert und die Lichtgeschwindigkeit bleibt scheinbar konstant. In keinem erdenklichen Experiment, glaubte Lorentz, könne unter diesen Umständen der Ätherwind nachgewiesen werden.
So scharfsinnig diese Idee auch war, Einstein sah darin lediglich eine Notlösung. Er kehrte deshalb den Gedankengang von Lorentz um und erhob die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zum Prinzip. Ferner konstatierte er im so genannten Relativitätsprinzip, dass in allen zueinander geradlinig und gleichförmig bewegten Bezugssystemen die gleichen physikalischen Gesetze gelten. Auf der Grundlage dieser beiden Voraussetzungen entwickelte Einstein eine widerspruchsfreie Elektrodynamik bewegter Körper, die ohne den ominösen Lichtäther auskam.
Damit jedoch geriet die klassische Physik aus den Fugen, in der Raum und Zeit bekanntlich voneinander unabhängig sind. Nicht so in der Relativitätstheorie. Hier werden beide durch die Vakuumlichtgeschwindigkeit, die zugleich die oberste Grenzgeschwindigkeit für die Energieübertragung darstellt, zur so genannten Raum-Zeit verschmolzen. Hatte Newton noch behauptet: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand«, so war für Einstein klar: Es gibt keine absolute Zeit und somit auch keine absolute Gleichzeitigkeit von räumlich getrennten Ereignissen. Jedes Bezugssystem besitzt vielmehr seine eigene Zeit.
Das hat zur Folge, vereinfacht gesagt, dass bewegte Uhren langsamer gehen als ruhende (Zeitdilatation), und dass bewegte Gegenstände sich in Richtung der Bewegung verkürzen (Längenkontraktion). Doch anders als bei Lorentz, der diese Verkürzung auf den Druck des Ätherwindes zurückgeführt hatte, ist sie bei Einstein durch den realen Messvorgang bedingt und mithin symmetrisch. Das heißt: In zwei gleichen Eisenbahnzügen, die sich relativ zueinander bewegen, würden Beobachter jeweils feststellen, dass sich der andere Zug in Fahrtrichtung verkürzt hat. Das erscheint paradox: Wie kann einer der beiden Züge kürzer sein als der andere?

Erfahrung und Begriff

Zur Veranschaulichung dieses Effekts stelle man sich zwei gleichgroße Personen vor, die sich gegenseitig durch eine riesige konkave Linse betrachten. Auch hierbei sieht jede Person die andere kleiner, ohne dass beide sich körperlich verändert hätten. In der Relativitätstheorie indes besteht keine Möglichkeit, die »wirkliche« Länge eines Gegenstandes zu definieren. Vielmehr sind die tatsächlich gemessenen, von der Relativgeschwindigkeit der Bezugssysteme abhängigen Längen (und Zeiten) für den jeweiligen Beobachter wirklich. Und über andere Größen macht die Theorie keine Aussagen.
Denn nach Einsteins eigenen Worten ist für das Konzept der Relativität auch ein erkenntnistheoretischer Gesichtspunkt charakteristisch: »Es gibt in der Physik keinen Begriff, dessen Verwendung a priori nötig oder berechtigt wäre. Ein Begriff erhält seine Daseinsberechtigung nur durch seine klare und eindeutige Verknüpfung mit Erlebnissen bzw. mit physikalischen Erfahrungstatsachen.« Folglich werden in der Relativitätstheorie all jene klassischen Begriffe verworfen, bei denen sich ? wie bei der absoluten Gleichzeitigkeit oder der absoluten Länge ? eine solche Verknüpfung nicht herstellen lässt.
Einstein hoffte natürlich, dass seine revolutionären Ideen in der Fachwelt sofort eine heftige Diskussion auslösen würden. Zu seiner Enttäuschung blieb eine Reaktion aus, und auch in den nachfolgenden Bänden der »Annalen der Physik« fand er keinen Hinweis auf seine Person. Erst nach Monaten wurde er von Max Planck um einige präzisierende Erläuterungen gebeten. Einstein antwortete, und damit schien die Sache ein für allemal erledigt. In Wirklichkeit hatte Planck längst die überragende Bedeutung der neuen Theorie erkannt. Sollte diese sich als zutreffend herausstellen, schrieb er bereits 1910, werde Einstein als »der Kopernikus des 20. Jahrhunderts« in die Geschichte eingehen. Bis heute hat die spezielle Relativitätstheorie alle experimentellen Prüfungen glänzend bestanden.
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