Ausschnitt aus einem Drama

Dachbodenfund: Was ein Gruppenfoto über Hans Fallada erzählt

  • Werner Liersch
  • Lesedauer: 6 Min.
Werner Liersch, geboren 1932, Erzähler, Essayist, literarischer Wanderer, Biografien-schreiber. Für »Hans Fallada. Sein großes kleines Leben« (1981) bekam er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste. Weitere Bände: »Goethes Doppelgänger. Die geheime Geschichte des Doktor Riemer«, »Dichterland Brandenburg« und »Geschichten aus dem Antiquariat«. Demnächst soll im Individuell Verlag der Essayband »Fallada. Der Büchersammler. Der Literaturkritiker. Der Photographierte. Der Mißbrauchte« erscheinen. Darin erzählt der Autor auch die eigene Fallada-Geschichte. Sie beginnt mit einer Faltboottour vor Fallada Haustür, umfasst Begegnungen mit Anna Ditzen und Falladas »Negermeyer«, der mit einem Panzerschrank die Berliner Sektorengrenze passiert haben will, wie Probleme, in die er als Vorsitzender der Hans-Fallada-Gesellschaft (1991-1993) geriet.
Von den legendären Dachböden, auf denen die sensationellen Funde zu machen sind, hat man schon oft gehört. Doch es gibt sie wirklich. Es gibt sogar einen Dachboden, auf dem ein Fallada-Fund gemacht wurde. Vielleicht sogar ein sensationeller. Der Dachboden befindet sich in dem thüringischen Städtchen Rudolstadt, in dem Rudolf Ditzen 1911 zur Schule ging. Das heißt, er besuchte das Rudolstädter Gymnasium. Das »Fridericianum«.
Im Juni 1997 machten zwei Männer einen Gang durch ein in der Nähe des Rudolstädter Marktes gelegenes Gebäude. Es waren der Hausbesitzer Daniel Hettwich und der Journalist Reinhard Querengässer. Hettwich hatte das Haus neu erworben und war neugierig. Die beiden Männer stiegen bis unter das Dach, wo Querengässer ein verstaubtes Foto entdeckte, das dort offenbar schon seit Jahrzehnten lag. Das Bild war ein Gruppenfoto. Es zeigte vier Reihen ernster Männer. In der Mehrzahl ernste junge Männer. Unter dem Gruppenbild standen die Namen der fotografierten Personen, wobei dem Journalisten der Name »Rudolf Ditzen« auffiel. Querengässer teilte seine Vermutung, dass es sich um »Fallada« handeln müsse, dem Stadtarchiv mit, das bestätigte, dass es sich um jenen »Rudolf Ditzen« handle. Die Archivarinnen hatten, wie es gute Archivare tun, die Primärquellen befragt. Im Schülerverzeichnis des Rudolstädter Gymnasiums fand sich der Name. Er findet sich auch in den Sekundärquellen zu Rudolf Ditzen, den diversen Fallada-Biografien.
Auf dem Foto gibt es drei Reihen starr dastehender, starr blickender junger Männer und eine Reihe starr dasitzender, starr blickender älterer Männer. Soweit zu erkennen ist, lächelt keine der 29 Personen des Gruppenfotos. Sieht man die ernsten Mienen, mag man nicht glauben, dass es sich um die Teilnehmer eines »Festessens« handelt. Eine Auflockerung der Szene bilden allein die Zigaretten in den Händen von zwei starr dastehenden jungen Männern und die Zigarren in den Händen von zwei starr dasitzenden älteren Männern. Die Starrheit mag mit der Entwicklung der Fotografie im Jahre 1911 zusammenhängen. Bei den damals nötigen Belichtungszeiten waren die zu fotografierenden Personen zu einer gewissen Unbeweglichkeit gezwungen. Die Starrheit mag auch Ausdruck einer gewissen gesellschaftlichen Starrheit sein.
Doch ist das eine literarische Sicht. Mit dieser Sicht lassen sich allerdings einige Dinge sehen, die auf dem Foto nicht zu sehen sind. Vor und nach dem Gruppenfoto gibt es Bewegung, Turbulenzen, Aufregungen. Das Foto ist der starre Sekundenausschnitt aus einem Drama. Oder auch fünf Sekundenausschnitte. Ich kenne mich mit der Fotografie um 1911 nicht genügend aus. Das Datum ist der 30. September 1911. Der Entstehungsort der Biergarten der »Pörzbierhalle«, heute befindet sich dort die Intendanz des Rudolstädter Theaters.
Rudolf Ditzen ist der junge Mann in der zweiten Reihe von unten, der dritte von links, der nicht in die Kamera sieht, der den Blick abwendet, der sich nicht in die Aufreihung einordnet.
Der junge Mann in der obersten Reihe, der dritte von links, heißt Günter Dehn. Dehn wird später über Rudolf Ditzen sagen: »Mir ist aufgefallen, daß er außerordentlich nervös war und den Eindruck eines gereizten und überspannten Menschen machte. Er rauchte sehr viel Zigaretten und zwar, wie er mir sagte, um seine Nerven zu beruhigen«.
Der erste von links in der zweiten Reihe heißt Bernhard Hübner. Hübner ist in Schlettwein in der Nähe von Rudolstadt zu Hause. Am 11. Oktober besucht Rudolf Ditzen Hübner mit dem Fahrrad und bleibt über Nacht. Der Gymnasiast Ditzen sagt nach dem Abendbrot: »Ich möchte einmal jemand erschießen. Weißt Du, wen?, Fräulein Simon. Ich habe Mühe, mir das auszureden.« Hübner wohnt in Rudolstadt bei der Mutter des Fräulein Simon. Das Fräulein Simon heißt mit Vornamen »Erna« und ist ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren.
Der junge Mann in der obersten Reihe, der zweite von links, der Gymnasiast neben Dehn, ist Hanns Leopold von Necker. Hanns Leopold hat einen Bruder, den auf dem Bild nicht zu sehenden Obersekundaner Hanns Dietrich von Necker. Hanns Dietrich wird am Morgen des 17. Oktober 1911 auf dem Uhufelsen in der Flur Eichfeld über Rudolstadt erschossen.
Rudolf Ditzen, zweite Reihe von unten, ist wegen einer pubertären Eselei seit dem 15. Juni 1911 in Rudolstadt. In Leipzig hat er der Tochter eines Kollegen seines Vaters anonyme Briefe geschrieben. Der Vater, Wilhelm Ditzen, amtiert in Leipzig als Reichsgerichtsrat. Vom ruhigen Rudolstadt erhofft sich die Familie Besserung des Zustandes ihres Sohnes. Er hat am 30. September in der Aufführung des Trauerspiels in vier Akten von Wildenbruch, »Der Mennonit«, mitgewirkt. Es ist eine Aufführung zum 25. Stiftungsfest der »Literaria«, des Gymnasialvereins des »Fridericianum«. Die »Schwarzburg-Rudolstädtische Zeitung« berichtet am 1.Oktober über das Ereignis: »Die Vorstellung war vom ersten bis zum letzten Moment bestens gelungen. Um das Zusammenspiel hatte sich Frl. M. Richter sehr verdient gemacht, die als Spielleiterin fungierte. Als Schauspieler traten die jetzigen Mitglieder der "Literaria" auf denen sich einige "alte Herren" zugesellt hatten. Die Darsteller hatten sich mit Liebe in ihre Rollen versenkt, beherrschten sie vollständig und boten tüchtige Leistungen. Der Vater Waldemar wurde von Herrn Trinkler mit milder Ruhe gespielt, den Helden des Stückes Reinhold gab Herr Ditzen mit jugendlicher Begeisterung, und aus dem Intriganten Mathias machte Herr Simon eine scharf charakterisierte Gestalt ... Die Aufführung hatte einen starken Erfolg, und nach jedem Aktschluss wurden die Darsteller mehrfach gerufen; Frl. Richter wurde ein Blumenstrauß überreicht. In den Zwischenakten wurde das Publikum durch Vorträge der Kapelle des III. Bat. des 7. Thür. Infanterieregimentes erfreut.«
Das Stück spielt am Vorabend der antinapoleonischen Befreiungskriege. Der Aufrührer Reinhold wird am Schluss des Dramas von den Franzosen zum Tode verurteilt. Er spricht vor der Exekution die Worte: »Ihr werdet keinen Feigling knien sehn. Ihr werdet sehn, wie deutsche Männer sterben.«
Dehn, oberste Reihe, der dritte von links, fällt eine verstörende Leidenschaftlichkeit des Hauptdarstellers auf. Dehn sagt später: »Dieselbe Wahrnehmung hat sein Partner stud. theol. et phil. Curt Simon in Greifswald, Domstr. 21, gemacht, und auch die Leiterin unserer Aufführung, Frl. Richter, soll sich ähnlich ausgesprochen haben.«
Hanns Dietrich von Necker wird am Morgen des 17. Oktober 1911 auf dem Uhufelsen in der Flur Eichfeld von Rudolf Ditzen erschossen. Der Haftrichter am Rudolstädter Landgericht erlässt am gleichen Tag einen Haftbefehl gegen den »Unterprimaner Rudolf Ditzen in Rudolstadt, geboren den 21. Juli 1893 in Greifswald, welcher dringend verdächtigt ist, am 17. Oktober 1911 auf dem Uhuberg in der Flur Eichfeld, seinen Gegner, den Obersekundaner Hanns Dietrich von Necker, im Zweikampf, der den Tod des einen von beiden herbeiführen sollte und ohne Sekundanten stattgefunden hat, getötet zu haben - Verbrechen gegen die §§ 205, 206 und 208 des StGb. Die Untersuchungshaft wird verhängt, weil ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet und daher Fluchtverdacht begründet ist.«
Rudolf Ditzen und Hanns Dietrich von Necker sind sich schon aus Rudolfs Leipziger Zeit bekannt. Ein Berliner Schulfreund Rudolf Ditzens hat sie miteinander bekannt gemacht. Seit einem Jahr wechseln sie Briefe. Sie handeln von Literatur, Eltern, Lebenssinn, Selbstmord. Für den 17. Oktober haben sie einen Doppelselbstmord verabredet. Sie sind mit ihrem Heranwachsen allein. Der Doppelselbstmord soll wie ein Duell aussehen. Bei dem Schusswechsel wird nur Necker tödlich getroffen. Rudolf Ditzen gibt sich selber die Kugel, überlebt aber.
Der Fotografierte in der zweiten Reihe von unten, der dritte von links, ist Hans Fallada. In der Zeit nach der Aufnahme ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als ein Schriftsteller zu werden. Er passt sich bereits auf dem Foto nicht ein.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal