- Politik
- Familie Bastürk ist in Deutschland so integriert, wie man nur sein kann. Dennoch vermißt sie etwas:
Das Fremde beginnt an der Wohnungstür
Ayhan Bastürk lebt seit 20 Jahren in Berlin. Die Hälfte seines Lebens. Einmal im Jahr kriegt er Sehnsucht, dann fährt er »rüber«. Drüben, das ist die Heimat. Nach vier Wochen wird er hibbelig, dann will er wieder nach Hause. Zuhause - das ist hier.
Ayhan wohnt mit seiner Frau Ilknur und Sohn Aytug in Schöneberg. Sie sind die einzige türkische Familie im Haus. Das Verhältnis zu den deutschen Nachbarn ist »toll«. Sie feiern zusammen Geburtstage, Hochzeiten und Weihnachten.
Ayhan hat blaue Augen. Früher war er blond, jetzt wird er allmählich grau. Er liest »Tagesspiegel« und »Morgenpost«, nennt Schimanski einen »bombastischen Typen«, findet Verona Feldbusch hübsch, hätte Schulz gegen Tyson die Daumen gedrückt und ist sauer, wenn Hertha verliert. Schwierig würde es nur, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft auf die türkische träfe. Da wäre ein Unentschieden am besten. Unentschieden ginge noch. Bloß verlieren dürften die Türken nicht.
Es gab eine Zeit, in der Ayhan besser deutsch als türkisch sprach. Das war
während des Studiums und des Praktikums am Max-Planck-Institut. Da hatte er das eine oder andere türkische Wort schon vergessen. Er hatte fast nur deutsche Freunde. Und deutsche Freundinnen. Ilknur, die aus Istanbul stammt, hat er geheiratet. Sie reden türkisch miteinander Die Wörter, die er vergessen hatte, hat er nun wieder parat. Aytug, der jetzt zweieinhalb ist, hat auf türkisch sprechen gelernt.
Ilknur kocht traditionell. Manchmal gehen Bastürks in mexikanische oder chinesische Restaurants; Eisbein essen sie nicht. Sollte Aytug irgendwann einmal Eisbein essen wollen, wird Ayhan ihm sagen, das sei nicht gesund. Entscheiden soll er selbst. Er soll den Koran und die Bibel lesen. Er soll lernen, daß Christen und Juden keine gottlosen Menschen sind. »Wir sollen an alle Propheten glauben, sonst sind wir keine Moslems«, sagt er. Das stehe im Koran. Viele seiner Landsleute hätten ihn aber nicht richtig gelesen. Er schon. Nicht von vorn bis hinten natürlich, doch alles über die »wichtigen Themen«.
Die »wichtigen Themen« wurden erst wichtig, seit er hier lebt. Seit ihm zum ersten Mal auf der Straße Priester und Nonnen begegneten. Warum klejden sie sich so, wollte er wissen. Wenn sie es
wegen des Glaubens tun, warum werden dann türkische Frauen mit Kopftüchern komisch angesehen? Warum werden die einen geachtet und die anderen verspottet? »Der Glaube ist ein Gefühl«, sagt Ayhan, »wenn man dadurch beruhigt wird, soll es so sein.« Ilknur trägt kein Kopftuch. Sie will es nicht. Ayhan akzeptiert es. Wenn sie ein Kopftuch tragen wollte, würde er es auch akzeptieren. Es ist ihre Entscheidung.
Vor fünf Jahren hat Ayhan »Bastürk Computer Consulting« gegründet. Die Firma läuft »super«, 60 Prozent seiner Kunden sind Deutsche. Ilknur arbeitet als Prüferin bei DE TE WE, Aytug geht in den Kindergarten; dort lernt er deutsch. Er ist ein aufgeweckter Junge. Wie die meisten seines Alters vor allem abends. Es gab Beschwerden beim Hausbesitzer.
»Wir feiern zusammen, doch dann ist es, als hätten wir uns nie gesehen.« Ayhan versteht das nicht. Die Nachbarn haben nichts gegen Türken, aber gegen Fremde, glaubt er Das Fremde beginnt an der Wohnungstür. Wo er aufgewachsen ist, besuchen sich die Familien. Und nach Ramadan schenkt man sich etwas. Anfangs brachte Ilknur auch den hiesigen Nachbarn Süßigkeiten. Jetzt nicht mehr, sie fand die Naschereien anderntags in der Mülltonne wieder. Eine Frau hatte sich aber gefreut. Wenn Bastürks auf dem Balkon saßen, saß sie oft auf ihrem Balkon und erzählte, welches Buch über das Osmanische Reich sie gerade gelesen hatte. Als Ayhan sie eine Woche lang nicht auf dem Balkon entdeckte, vermißte er sie. Er ließ ihre Tür öffnen. Sie war gestorben. Niemand sonst hatte sie vermißt.
»In der Türkei«, sagt Ayhan traurig, »wäre so was nicht passiert.«
Bastürks leben so lange in Deutschland, daß sie glauben, den deutschen Paß hätten sie sich wohl verdient. Sie besitzen ihn noch nicht. Irgendwie hatten sie immer Angst, ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben - wer weiß, womöglich hätte man sie ihnen nicht zurückgegeben. Wenn sie ihre Familie besuchen, die Sandkasten- und Schulfreunde treffen, wollen sie sich nicht als Gäste fühlen. Hier aber auch nicht. Mit dem deutschen Paß verschwände das Fragezeichen in ihrem Leben. Sind sie Türken, sind sie Deutsche? Ayhan will sich nicht entscheiden müssen. »Man darf Mutter und Kind nicht trennen. Zusammen sind sie glücklich. Trennt man sie, sind sie unglücklich.«
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