Enormes soziales Gefälle
Ein kurzer Blick auf die europäischen Statistiken (siehe Tabellen) gibt zudem Auskunft über das enorme soziale Gefälle in den Regionen der EU. Gleichzeitig sagt das Pro-Kopf-BIP jedoch wenig aus über die Höhe der Arbeitslosigkeit. So weist z. B. Brüssel eine Arbeitslosenrate von 19,5 Prozent auf und zählt doch zu den reichsten Regionen. In Berlin, das mit 102 Punkten immerhin noch leicht über dem EU-Durchschnitt angesiedelt ist, liegt die Arbeitslosenrate bei über 17 Prozent. Nur für die Regionen mit sehr niedrigem Pro-Kopf-Einkommen gilt, daß dort zumeist auch die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist (z. B. in Andalusien bei 40 Prozent).
Einmal abgesehen davon, daß die bisherige Strategie der EU - blumige Formulierungen und kleine Detailprogramme für die Entwicklung einer europäischen Beschäftigungspolitik zusammenzubinden - völlig unzureichend ist. Und unter der Vorgabe, daß die mit der deutschen EU-Präsidentschaft anvisierte neue Fassung des Beschäftigungspaktes im besten Fall dazu führen kann, alle relevanten Politiken der EU an Beschäftigungswirksamkeit auch auf der Ebene der Staaten und Regionen zu binden, bleibt angesichts des großen Wohlstandsgefälles und der vielen von sozialem Aus-
Schluß und Armut bedrohten Menschen in der EU natürlich die Frage, ob eine solche nur auf Beschäftigung ausgerichtete Politik überhaupt in die richtige Richtung geht - oder ob wir hier nicht nur in eine neue Falle laufen.
Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, ist es notwendig, sich die großen gesellschaftlichen Entwicklungslinien unserer Zeit zu vergegenwärtigen. Die Entwicklung in der EU ist gekennzeichnet von einem massiven neoliberalen Modernisierungsdruck, der einen sehr konkreten Namen hat: Entwicklung der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Dieser Prozeß wird von der EU-Kommission als sehr positiv eingeschätzt, und gerne möchte man mit den USA Schritt halten können.
Durch diese Entwicklung werden immer mehr traditionelle gesellschaftliche Tätigkeiten entwertet. Dies betrifft das Handwerk, die Landwirtschaft, soziale, erzieherische, pflegerische und nicht unmittelbar marktförmige intellektuelle und kulturelle Tätigkeiten - alle diejenigen Tätigkeiten also, die an einen menschlichen Rhythmus gekoppelt sind und sich nicht beliebig rationalisieren lassen. Auf der plumpen Ebene der Arbeitgebersprache heißt das: Diese Tätigkeiten sind zu teuer und nicht mehr im Rahmen normaler Arbeitsverhältnisse leistbar Die Reaktion daraufist, daß ungesicherte Arbeitsverhältnisse und Billigjobs immer mehr anwachsen. Denn eines ist klar: Die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft entsteht nur zu einem geringen Teil in jenen hochprofitablen Bereichen der Medien- und Informationsindustrie, in denen hohe Verdienste zu erzielen sind. Der breite Sockel dieser Gesellschaft wird von Menschen gebildet werden, die hochdisponibel sind in ihren Fähigkeiten und die von den heute noch üblichen Normalarbeitsverhältnissen mit Arbeitnehmerrechten, sozialem Risikoschutz und existenzsicherndeh Löhnen nur träumen können.
Unter einem solchen Blickwinkel erscheint Europa in dieser Zeit als ein Schlachtfeld mit nur wenigen kleinen friedlichen Inseln (z.B. die Niederlande oder auch Dänemark). Die traditionelle
Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Unternehmern um Löhne und Rechte verliert an Bedeutung, weil sie die Rechte derjenigen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, nicht zentral aufnehmen kann. Die von sozialem Ausschluß, Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen sind der staatlichen Verfügung unterworfen. Und die neuen sozialdemokratisch geprägten Regierungen stehen unten dem Druck, das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen zu müssen.
In Frankreich wurde deshalb ein gro-ßes Programm »Nouveaux Services, Nouveaux Emplois« für 300 000 junge Arbeitslose geschaffen, in Großbritannien das riesige Programm »New Deal for young People«, das jetzt auch auf Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende ausgeweitet wird. In der Bundesrepublik wurde soeben das Programm »Jump« für die Integration von 100 000 arbeitslosen Jugendlichen auf den Weg gebracht. Die Programme haben einige Dinge gemeinsam: Die Teilnehmer werden durch die Androhung des Verlustes sozialer Unterstützung gezwungen, die Angebote wahrzunehmen. Die Löhne sind sehr niedrig, die Maßnahmen zeitlich befristet und die integrierten Weiterbildungsprogramme nicht auf die Vermittlung spezifischer beruflicher Qualifikationen ausgerichtet, sondern darauf, die Disponibilität der Betroffenen für unterschiedliche Tätigkeits-
ferner zu erhöhen. Nur in Frankreich ist wenigstens durch die lange Beschäftigungsgarantie von fünf Jahren der Aufbau einer stabilen Arbeitserfahrung möglich.
Dies bedeutet im Klartext: In der einen oder anderen Weise fügen sich alle Programme in den »Prozeß der schutz-'und rechtlosen Arbeitsverhältnisse und in die Bildung einer neuen Klasse von »Working Poor« ein, wie sie bereits auf breiter Basis in den USA entstanden ist. Bereits jetzt verweist ja das Wohlstandsgefälle in der EU und die die Arbeitslosigkeit bei weitem übersteigende Zahl derjenigen, die von Armut betroffen sind, auf eine Entwicklung in diese Richtung.
Wir haben also ein gemeinsames europäisches Problem. Die Frage der Beschäftigungsentwicklung ist nicht mehr nur die Frage der Bereitstellung neuer, zusätzlicher“ Arbeitsplätze. Beschäftigungsentwicklung heute findet statt unter der Bedingung der Deregulierung der sozialen Schutzsysteme, unter der Bedingung der Entwertung traditioneller gesellschaftlicher Tätigkeitsbereiche, unter der Bedingung einer massiven Reduzierung der Intensität, Komplexität und Qualität all derjenigen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten, die der Erhaltung, Gestaltung und Pflege der menschlichen Lebensumwelt dienen.
Demgegenüber ist in der Tat eine ganz andere als die bisher in der EU verfolgte Strategie notwendig: I.Wir brauchen eine sehr viel ausgeprägtere Regulierung der sozialen Entwicklung durch Rahmengesetzgebungen auf europäischer Ebene, als dies bis jetzt der Fall ist. Es müssen Mindeststandards verbindlich formuliert werden, die nicht das unterste Niveau der Regelung in einem Mitgliedsland zum Inhalt haben und die niemandem weh tun - wie dies bis jetzt weitgehend bei der Arbeitszeit-, Teilzeit-, Elternurlaubs- und Mutterschutzregelung der Fall ist. Gemeinsame Mindeststandards müssen sich an gemeinsamen Zielsetzungen orientieren. Diese Zielsetzungen müssen sich an EU-weiter Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit messen. 2. Das Streikrecht und das Recht auf exi-
stenzsichernden Lohn, die bis jetzt von europäischen Regelungen ausgeschlossen sind, müssen einbezogen werden. Nur. wenn.-die gewerkschaftliche' Bewegung in ihren zentralen Anliegen europäisch agieren kann, kann das Gleichgewicht der Kräfte zur selbstverständlich europäisch (und global) agierenden Wirtschaft hergestellt werden. 3. Bis jetzt gibt es eine Tabuisierung der sozialen Schutzsysteme, die endlich in die EU-Gesetzgebung einbezogen werden müssen. Das im Vergleich zu den USA und den asiatischen Industriestaaten durchaus gemeinsam konturierte europäische Sozialmodell kann nur reformiert und erhalten werden, wenn es tatsächlich auf die europäische Ebene gehoben wird.
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