Bückware für den aufrechten Gang

Die DDR-Bibliothek bei Faber & Faber liegt in 24 Bänden vor

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine abgeschlossene Sammlung: Als Elmar und Michael Faber in ihrem Verlag 1995 diese Buchreihe aus der Taufe hoben, widersprachen sie vehement der Vermutung von Nostalgie. Im Gegenteil, Zukunftsarbeit sollte es sein, herauszufinden, was aus der DDR-Literatur an wichtigen Büchern bliebe. Freilich war von Anfang an klar, dass selbst die ursprünglich geplanten 40 Bände dafür nicht reichen würden. Und 24 sowieso nicht. Die Essenz von 40 Jahren DDR-Literatur braucht mehr als 70cm im Bücherregal.
Aber allein schon die Frage nach dem Bleibenden gestellt zu haben, ist ein Verdienst der Reihe. Was vielen als abgehakt galt, wurde wieder ins öffentliche Gespräch gebracht. Menschen, die diese Literatur noch nicht kannten, weil sie jünger sind oder aus den alten Bundesländern kommen, können anhand der Texte vielleicht besser DDR-Mentalitäten verstehen, die viel länger weiterwirken, als man anfangs dachte. Eine Entdeckung anderer Art ist die Bibliothek auch für diejenigen, die Jahrzehnte lang mit dieser Literatur gelebt haben. Ostdeutsche Leser sind noch einmal mit dem konfrontiert, was für sie literarisch und gesellschaftlich von Bedeutung war. Sind eingeladen, sich zu erinnern, ihre Überzeugungen von damals mit denen von heute zu vergleichen: Worin habe ich mich verändert, worin nicht? War ich naiv? War ich verblendet?
Es klingt mutig, diese Fragen in der Vergangenheitsform zu stellen, dabei ist es doch so wohlfeil, wenn es der Anpassung ans Gegenwärtige dient. Dass wir in dieser Gesellschaft »Leute von draußen« sind, mag für den einzelnen manche Nachteile bringen. Aber welche Chance ist es zugleich, nicht »betriebsblind« zu sein, gegenüber ideologischer Vereinnahmung sozusagen ein »Frühwarnsystem« zu besitzen. Denn wie Ideologie wirkt, das haben DDR-Bürger nun wahrlich gelernt. Und die Schriftsteller dieses Landes zumal. So lohnt der Kauf der Bände allein schon der Nachworte wegen. Denn darin ist jeweils genau und kompetent dargestellt, welche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen die jeweiligen Bücher provozierten.
Es war beabsichtigt, Texte zu sammeln, die »von 1949 bis 1990 die innere Konfliktlage des Landes dokumentieren«. Das warf natürlich Fragen auf. Nicht jeder Schriftsteller, der gern in dieser Reihe gewesen wäre, gelangte hinein. Andererseits bekam der Verleger nicht jeden, den er gerne gedruckt hätte, schon aus Lizenzgründen nicht. Wo ist Stephan Heym? Wo ist Uwe Johnson? Wo Franz Fühmann? War das Konzept einer solchen Bibliothek schon schwierig genug auszudenken, in der praktischen Umsetzung kam manch ungeahnte Klippe hinzu.
Auch sollte jeder Autor nur einmal vorkommen. Da wurde eben von Christa Wolf »Der geteilte Himmel« ausgesucht und nicht »Nachdenken über Christa T.«, »Kindheitsmuster« oder »Kassandra«, obwohl gerade auch diese Werke für das gesellschaftliche Bewusstsein in der DDR von außerordentlicher Brisanz gewesen sind. Und bei Christoph Hein entschied man sich für »Horns Ende«, ein Buch, das 1985 im damals von Elmar Faber geleiteten Aufbau-Verlag zunächst ohne Druckgenehmigung der HV Verlage erschien, und nicht für »Der fremde Freund« oder »Der Tangospieler«.
Sollte man sich auf Bücher konzentrieren, die in der DDR geschrieben wurden und in Umlauf kamen? Da hätte man auf Thomas Brasch oder Wolfgang Hilbig verzichten müssen. Sollte man den thematischen Hintergrund DDR zum Kriterium nehmen? Dann hätten Becher und Eisler mit »Der Aufstand im Menschen« und »Johann Faustus« nicht gepasst. Die Klammer für die höchst unterschiedlichen Texte scheint mir zu sein, dass die Autoren mit ihrem Wort eine Einmischung in gesellschaftliche Angelegenheiten erstrebten - und erreichten -, wie sie in den gegenwärtigen Wirkungszusammenhängen von Literatur kaum mehr möglich ist.
Nun kann man heute darüber streiten, wie hoch im einzelnen der Beitrag der Literatur für die geistige Entwicklung in der DDR gewesen ist. Diese Bedeutung kann ja nicht mit den aufgeregt-furchtsamen Reaktionen in den Bereichen der Macht gleichgesetzt werden, die allein schon durch die hierarchischen Strukturen begründet waren; einer wollte »wachsamer« sein als der andere. Aber unleugbar ist, dass dem Verhältnis von Autoren und Lesern ein solches Selbstverständnis zugrunde lag.
Gute Bücher wurden trotz hoher - für heutige Verhältnisse mitunter märchenhafter - Auflagen oft unter dem Ladentisch hervorgeholt. Aber das unterstrich nur noch ihre Wichtigkeit. Die Papierknappheit war eine prima Marketingidee, könnte man heute sagen. Aber diese kritisch eingreifende Literatur war nicht nur etwas, das man »ergattern« musste, so wie eine Levis 501, sie war »Bückware« für den aufrechten Gang. Lektüre, die Freiräume eröffnete, allein schon indem sie etwas benannte, wovon man sonst nichts las. Das wurde dann auch in der Öffentlichkeit wichtig genommen. Darin besteht der Unterschied zu heute. Denn jetzt fühlt man sich ja oft wie auf einem Flugplatz, wo einem Wahrheiten und Lügen dröhnend um die Ohren fliegen. Damals dagegen, unter den Bedingungen ideologischer Enge, vernahm man noch das Flüstern, sah noch das, was ungedruckt zwischen den Zeilen stand
Nachdem Bücher von DDR-Autoren Anfang der 90er Jahre vielerorts aussortiert und auf Müllhalden gekippt worden waren, lag allein schon in der Gestaltung dieser Reihe ein Bekenntnis. »DDR-Literatur wird dem Leser als Kostbarkeit überreicht«, hat es Werner Mittenzwei auf einer Veranstaltung ausgedrückt. Wobei Elmar Faber wohl schon immer etwas übrig hatte fürs »kulinarische Büchermachen«: »Wenn Sie diese Bücher in die Hand nehmen, dann spüren Sie, dass Sie es mit guter Literatur zu tun haben. Ich möchte das mal wieder zelebrieren.« Es blieb nicht unbemerkt: Die Edition in der Gesamtgestaltung von Prof. Juergen Seuss - Schuber, Einband, Typographie aufeinander abgestimmt, den Vorzugsausgaben liegt jeweils eine Originalgrafik von einem DDR-Künstler bei - wurde von der Stiftung Buchkunst als Schönstes Buch prämiert.
DDR-Literatur - ein abgeschlossenes Sammelgebiet? Ja und nein. Was die Texte betrifft, so kommt Neues nicht mehr hinzu. Aber wenn man bedenkt, dass Bücher beim Lesen erst ihre Lebendigkeit gewinnen, ja »miterschaffen« werden, dann ist DDR-Literatur auch weiterhin als Prozess zu sehen.

DDR in 24 Bänden

Johannes R. Becher: Aufstand im Menschen.

Werner Heiduczek: Tod am Meer

Karl-Heinz Jakobs: Beschreibung eines Sommers

Irmtraud Morgner: Amanda. Ein Hexenroman

Heiner Müller: Der Lohndrücker/ Die Umsiedlerin

Alfred Wellm: Pause für Wanzka

Adolf Endler: Schichtenfloz (nicht mehr lieferbar)

Christoph Hein: Horns Ende

Erik Neutsch: Spur der Steine

Wolfgang Hilbig: Die Weiber

Hanns Eisler: Johann Faustus

Christa Wolf: Der geteilte Himmel

Klaus Schlesinger: Alte Filme

Erzählungen aus der DDR 1949-1969: Damals. In einem nahen fernen Land

Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne

Essays 1949-1990: Die Kraft der Empfindlichkeit

Hermann Kant: Das Impressum

Herbert Otto: Der Traum vom Elch

Erzählungen aus der DDR 1970-1990: Hier und dort. Neulich vor langer Zeit

Volker Braun: Hinze-Kunze-Roman

Anna Seghers: Überfahrt

Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp

Jurek Becker: Aller Welt Freund

Erich Loest: Es geht seinen Gang

Alle erschienen im Verlag Faber & Faber Leipzig, lieferbar zum Sonderpreis von 10 Euro pro Band.
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