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- Der Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker Dr. med. Lothar Adler hat eine weltweit einmalige Studie vorgelegt
AMOK
Foto: Reuters/Kappeler
Bad Reichenhai
? Herr Dr. Adler, was ist Amok?
Der Ursprung führt ins malaiische Archipel. Amok heißt soviel wie »rasend«, »wütend«. Mit dem Kampfruf »Amok« signalisierte der Krieger dem Gegner, dass er ohne Rücksicht auf das eigene Leben kämpfen würde. Heute ist Amok zum umgangssprachlichen Begriff für einen impulsiven Gewaltausbruch geworden, der in bestimmten Phasen abläuft und sich immer gegen mehrere Menschen richtet.
? Phasen?
Ja. Meist folgt einer Kränkung oder einem persönlichen Verlust eine Grübelund Rückzugsphase. Aus dieser kommt es dann - für den Außenstehenden völlig unerwartet - zum explosionsartigen Ausbruch der Gewalt. Der richtet sich zuerst gegen die Nächsten, oft die Familie, und kann sich dann auf andere ausweiten. Oft töten sich die Täter am Ende selbst. Überlebt der Amoklaufende, kann er sich meist an nichts erinnern.
? Wie gingen Sie bei Ihrer Studie vor?
Wir analysierten anhand von Gerichtsakten, Gesprächen mit Angehörigen und lokalen Berichten Gewalttaten, die von 1980 bis 1989 in der Presse öffentlich gemacht und als »Amok« bezeichnet wurden. Wir fanden in Deutschland und anderen Industrieländern 196 Fälle, bei denen 575 Menschen getötet wurden. Die Täter waren meist im mittleren Lebensalter, wenige unter 20, der älteste 88. Nur zehnmal wurden Frauen zu Täterinnen. Wir haben erstmals gezeigt, dass Amok eine.extrem seltene Tat ist: Pro Jahr wird von einer Million Menschen weniger als einer zum Täter.
? Was haben Sie über die Persönlichkeit des Amokläufers herausgefunden?
»Den« Amokläufer gibt es nicht. Wir unterscheiden drei Grundtypen. Depressive Täter greifen ihre Familie an, töten alle erreichbaren Mitglieder und am Ende mit hoher Sicherheit sich selbst. Schizophrene Täter greifen in der Regel Fremde an und nehmen den eigenen Tod eher in Kauf, als dass sie ihn wollen. Psychopathische Täter beginnen den Amoklauf meist in der Familie, weiten ihn dann auf Fremde aus. Ein Drittel von ihnen tötet sich oder wird getötet. Es sind narzistische und borderlinenahe Persönlichkeiten - hochkränkbar, misstrauisch und erheblich in ihrer Identität gestört. Sie können schlecht vergessen, nicht abschalten und haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle angemessen auszuleben. Sie sind oft gehemmt, aber dabei jähzornig und impulsiv. Ihre Beziehungen, auch die sexuellen, sind gestört, beruflich sind sie unstet. Sie kämpfen ständig um ihr männliches Selbstbewusstsein und neigen dazu, es mit Waf-
fenbesitz und anderem überzukompensieren. Sie sollen übermächtige Mütter und schwache Väter gehabt haben. Aber jede dieser Eigenschaften und Krankheiten ist häufig und macht noch keinen Amokläufer. Doch wenn Menschen, für die mehrere dieser Kriterien zutreffen, in Krisen geraten, kann es problematisch werden. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Geisteskrankheiten und andere Störungen bei Amokläufern im Vergleich zu anderen überrepräsentiert sind.
? Weiß man, warum bei einem Menschen die psychischen Bremsen funktionieren und beim anderen nicht?
Das hat möglicherweise auch biologische Gründe. Man weiß zum Beispiel, dass depressive Menschen häufig an Selbstmord denken. Und die, die es tun, haben besonders oft einen niedrigen Spiegel von Abbauprodukten des Transmitter-Stoffes Serotonin im Hirnwasser. Den haben auch Menschen mit erhöhter impulsiver Aggressivität. Es geht vermutlich weniger um die Richtung der Aggression, sondern
um eine gestörte Impulskontrolle. Bekannt ist auch, dass Totschläger und Mörder extrem hohe Suizidquoten haben. Dass Amokläufer unter Serotoninmangel leiden, ist bisher nicht nachgewiesen. Sie wären jedoch die ideale Gruppe, um diesen Zusammenhang weiter zu erforschen.
? Geben die Art des Tötens und die Wahl ? der Opfer auch Aufschluss über die Täter-Persönlichkeit?
Die depressiven Täter greifen immer gezielt die Familie, Freunde und Verwandte an. Sie töten gezielt, aber verletzen selten. Sie wollen vermutlich sich und den geliebten Menschen das Elend dieser Welt ersparen, das sie in der depressiven Verstimmung selbst erleben. Das andere Extrem ist der Wahn-Täter. Er greift ziellos und nur Fremde an. Besonders unberechenbar sind die Psychopathen. Sie greifen wahllos Nahestehende und Fremde an und verursachen viele Opfer. Auch folgendes haben wir herausgefunden: Sind die Opfer ausschließlich aus der Familie, töten sich drei Viertel der Täter.
Sind sie dem Täter nur bekannt, tötet sich ein Drittel. Und sind nur Fremde betroffen, dann ein Fünftel.
? Neben psychiatrischen Krankheiten beschreiben Sie in Ihrem Buch auch Ereignisse, die »das Fass zum Überlaufen bringen«. Kommt es danach sofort zum Amok?
Das ist sehr unterschiedlich. Es werden Täter beschrieben, die sich über zehn Jahre mit Rachegedanken beschäftigen, bis sie handeln. Paradebeispiel dafür ist der Hauptlehrer Wagner, der an einem ganz normalen Tag des Jahres 1914 seine Familie tötete, dann das süddeutsche Mühlhausen anzündete und jeden, der den Flammen entkommen wollte, erschoss. Jahrelang hatte er sich mit Schießübungen auf diesen Tag vorbereitet. Er war überzeugt, dass jeder im Dorf Bescheid wüsste, dass er sexuelle Handlungen an Tieren vorgenommen hatte was nicht der Fall war. Etwa die Hälfte aller Täter reagiert plötzlich, aus belastenden, aber letztlich banalen Zusammenhängen. Manchmal bedarf es nur des berühmten »Tropfens auf den heißen Stein«, beispielsweise einer Strafe fürs Falschparken. Die Täter wirken vor der Tat wie abwesend, um dann zu explodieren. Der Amoklauf kann einen ganzen Tag dauern.
? Was können Sie über den sozialen Hintergrund des Amokläufers sagen?
Die Täter sind in der Regel gut ausgebildet, ein langfristiger beruflicher Abstieg ist selten. Es hat sich gezeigt, dass der Tat oft eine gescheiterte Überanpassung im sozialen Umfeld vorausgeht, die irgendwann nicht mehr kompensiert werden kann.
? Fehlt es an Möglichkeiten, Frust und Aggressionen abzubauen?
Aggressionen werden in den sozialen Schichten und bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich bearbeitet. Die einen treiben Sport, leben sich am Arbeitsplatz aus oder lernen schon in der Familie, sich angemessen zu streiten. Andere bevorzugen das Fernsehen, wo sie Konflikte und Aggressionen erleben, ohne sich aber selbst auseinandersetzen zu müssen. Sie können irreale Phantasien entwickeln und haben kaum eigene Erfahrungen. Menschen mit solchen Defiziten sind eher gefährdet, in Konfliktsituationen aggressiv zu reagieren.
? Beeinflussen auch soziale Umbrüche und ihre Folgen die Tat?
Schlechte soziale Bedingungen sind allein keine Ursache für Amokläufe. Andauernde soziale Veränderungen überfordern aber viele Menschen und können bei entsprechenden psychischen Erkrankungen
zu mehr Frustration und letztlich Aggression führen.
? Frauen laufen selten Amok. Warum?
Frauen begehen insgesamt sehr viel seltener Straftaten, die sich gegen Leib und Leben richten. So eine extreme körperliche Gewalttat wie Amok ist ihnen offenbar besonders wesensfremd.
? Die Toten und Verletzten eines Amoklaufes machen immer Schlagzeilen. Wirkt das anregend auf Täter?
Imitationseffekte sind schwer nachzuweisen. Doch wir fanden drei Amokfahrten mit einem Panzer, die kurz nacheinander, dann aber nie wieder erfolgten. Es gibt einen Subtyp von Amokläufern, der offensichtlich den Tod durch Fremde, meist Polizisten, in der Öffentlichkeit sucht. Es sind in der Regel über 40-jährige Männer, die im Extremfall bis zu 15 Menschen töten und bis zu 50 verletzen. Vermutlich wollen sie ihre Wut wie einen letzten Kampf gegen ihre feindselige Welt öffentlich machen. In unseren Untersuchungen hatten wir in zehn Jahren nur zehn solcher Fälle. Das ist weltweit einer pro Jahr.
? Beeinflussen Drogen die impulsive Tat?
Vor allem in Amerika gibt es Berichte über sehr heftige, aggressive Gewalttaten unter Kokain oder kokainähnlichen Substanzen. Dazu gehört auch die Disco-Droge Ecstasy. Wir haben nicht feststellen können, dass diese Drogen von Bedeutung sind. Häufiger gab es Hinweise auf Cannabis- und Alkoholmissbrauch, der aber insgesamt unbedeutend war. Wenn man die Ein-Promille-Grenze zugrunde legt, dann haben nur zehn Prozent der Täter unter Alkohol gehandelt. Das ist sehr wenig, da sonstige Gewalttaten zu 50 Prozent und mehr unter Alkohol verübt werden.
? Sind die Freude an Waffen und ihr Besitz von Bedeutung?
Offensichtlich sind nicht der Besitz oder ein Beruf, der das Tragen einer Waffe erfordert, entscheidend, sondern die Begeisterung für Waffen. In unserer Studie zeigte sich, dass die Gruppe dieser Täter überrepräsentiert ist.
? Was raten Sie Menschen, die in eine Amok-Situation geraten?
Passiert es in der Familie, dann muss man alles tun, um den Täter sofort zu überwinden. Besteht diese Möglichkeit nicht, dann hilft nur fliehen. Wer auf der Straße in so eine Situation gerät, sollte sofort in Deckung gehen und sich nicht bewegen. Es ist davon auszugehen, dass der Amoklaufende nicht zum Aufgeben überredet werden kann. Nur wenige, die leichtere Taten begangen hatten, stellten sich oder gaben spontan auf.
? Tragen die Ergebnisse Ihrer Studie dazu bei, dass mehr psychisch Kranke richtig behandelt werden?
Ich hoffe es. Die Studie findet auch international große Beachtung. Das größte Interesse gibt es natürlich, wenn wieder ein Mensch Amok gelaufen ist. Einmal mehr kommt das Interesse zu spät.
Interview: Sigrid Mielke
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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