Wohlfühlen und Zwangsarbeit

Das Peenemünder Museum ringt um eine Opferperspektive auf die Usedomer Nazi-Raketenproduktion

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.
Bis 1989 galten die Reste des Nazi-Raketenprogramms auf Usedom als ein Ort des Schreckens. Dann kam die Wende - und heute kämpft der Museumsleiter gegen das Bild einer »paradiesischen Insel«.

Auf dem nordwestlichen Zipfel von Usedom gab es in den 1970er und 1980er Jahren einen Brauch für Frischvermählte. Nach der Zeremonie fuhren sie zu einem Mahnmal an der Landstraße zwischen Trassenheide und Karlshagen und legten dort den Brautstrauß ab. Der Gedenkort mit einem Mosaik-Triptychon von Klaus Rößler ist »dem Leiden, der Solidarität und dem Widerstand« der Zwangsarbeiter gewidmet, die im Zweiten Weltkrieg in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und in der Erprobungsstätte der Luftwaffe an der Entwicklung des deutschen Raketenprogramms arbeiten mussten - und denen, die das nicht überlebten.

Damals hatte dieses Mahnmal viel Besuch. Regelmäßig gab es Gedenkakte, die NVA vereidigte dort Rekruten. Nach dem Umschwung von 1989/90 verwaiste die Gedenkstätte weitgehend, wie so viele in den »neuen Bundesländern«. Dass am letzten Samstag etwa 100 Besucher erschienen - Deutsche und Polen - und mit den Bürgermeistern der umliegenden Orte dort Kränze niederlegten, war insofern eine Ausnahme.

Peenemünder Ambivalenzen

Die Gruppe bestand aus den Teilnehmern einer Tagung, die die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung am Wochenende in Trassenheide veranstaltete und deren Thema zu einem Besuch beinahe zwang: Um »Peenemünde aus Opferperspektive« ging es dabei im feinsten Wellnesshotel des Seebades. Und dieser Blickwinkel, so der Tenor der Veranstaltung, ist etwas, worum man heutzutage ringen muss. Die Anlagen des Nazi-Militärs, in denen nach 1990 allmählich ein Museum entstand, würden heute von vielen als »Wiege der Raumfahrt« betrachtet und von Technikfans besucht.

Jens-Christian Wagner von der KZ-Gedenkstätte für die frühere unterirdische Raketenproduktionsanlage »Mittelbau-Dora« bei Nordhausen in der Harzregion sah sich auf der Tagung veranlasst, einem »Mythos vom sauberen Peenemünde« entgegenzutreten. Peenemünde, sagte er pointiert, sei weder »sauber« gewesen noch »ambivalent«, sondern »umfassend zerstörerisch«. Wagner unterstrich, dass Peenemünde und die furchtbaren Stollen von Mittelbau-Dora, in denen Abertausende ihr Leben verloren, in ihren Strukturen eng zusammenhingen. Die Peenemünder wussten nicht nur ganz genau, was in dem weit entfernten Stollen passierte, sie waren - etwa über den Beirat der sogenannten Mittelwerk GmbH - auch an Entscheidungen beteiligt.

Ganz unumstritten ist Wagners klare Haltung in Peenemünde aber nicht. Vor wenigen Wochen erst hatte es die letzte Konferenz über Peenemünde gegeben. Im nächsten Jahr soll ein neues »Gesamtkonzept« vorliegen, von dem der Geschäftsführer des Museums, Michael Gericke, nach Presseberichten erwartet, »die Ambivalenz des Ortes historisch korrekt abzubilden«. Ob es etwas »Ambivalentes« im Nordwesten von Usedom gibt, war von Christian Mühldorfer-Vogt, dem wissenschaftlichen Leiter des dortigen Historisch-Technischen Museums, auf der Tagung nicht zu erfahren. Er sagte aber immerhin, die Versuchsanstalten seien »kein idyllisches Paradies« gewesen.

Wer das Museum besucht, das sich in dem gigantischen Kraftwerk befindet, bekommt indes ein »ambivalentes« Gefühl. Der Komplex war seinerzeit vor allem zur Produktion von Energie für die Herstellung von Raketentreibstoff errichtet worden. Das Eingangsschild verweist voll Stolz auf das »größte technische Denkmal unseres Bundeslandes«, auf einer anderen Tafel wird der Besucher darüber informiert, einen »Ankerpunkt« der »Europäischen Route von Industriedenkmälern« zu betreten. Und an der Fassade hängt derzeit ein riesiges Plakat von »NDR Kultur«, das malerische weiße Wolken, viel Wasser und drei zum Verweilen einladende Stühle vor dem Wohlfühlpanorama zeigt: »Hören und genießen!« Über 40 Jahre nach der Eröffnung des Rößler-Mahnmals gibt es in den Schriften des Museums Überschriften wie »Ein verdrängtes Kapitel: Zwangsarbeit in Peenemünde.«

Wie Museumsmann Mühldorfer-Vogt das Weiße-Wölkchen-Plakat findet, sagte er dem Ebert-Trupp bei dessen Vor-Ort-Visite nicht. Der Historiker stellt aber klar, wo aus seiner Sicht der Schwerpunkt liegen muss: Eine »vor allem sozialgeschichtliche, nicht technikgeschichtliche« Konzeption sei gefragt. Bereits in den vergangenen Jahren ist die Dauerausstellung, die nunmehr erneut überarbeitet werden soll, erweitert worden. Die in der Tat beeindruckenden Technikreste sind geschichtlich mehrfach eingebettet. Von Hetz- und Jubelartikeln aus dem Krieg, die die vermeintliche Zauberwirkung der Peenemünder »Wunderwaffen« V1 und V2 beschworen, bis zu Zwangsarbeiterkarten, die auf riesenhafte Formate gezogen wurden, reichen neuere Exponate. Einer Stimmung nationalen Stolzes, wie sie etwa 1992 herrschte, als die Kohl-Regierung nach dem gespenstischen Pogromsommer auch noch plante, den ersten Raketenstart anno 1942 zu feiern und nur von internationalen Protesten davon abgebracht werden konnte, tritt Mühldorfer-Vogts Ausstellungsdesign entgegen.

Doch die Arbeit an den Details, die zur seriösen Präsentation gehören, ist nicht leicht. Die Peenemünder Militärszenerie war nicht nur groß, sondern stellt sich als außerordentlich unübersichtlich dar. Es gab nicht nur die formal getrennten Anlagen von Heer und Luftwaffe, sondern auch mehrere, teils nur kurz, teils über Jahre betriebene Lager und verschiedenste Formen von »Beschäftigung« - in einer Art Hierarchie, die von freiwilligen, gut bezahlten Kräften auf der einen Seite über verschiedene Formen von damals so genannten Fremdarbeiter-Verhältnissen bis hin zu den versklavten russischen Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen reichte. Genau bestimmt sind die Zahlen und Verhältnisse in all diesen Gruppen noch nicht.

Hinsichtlich der KZ-Insassen gibt es inzwischen eine erste Todesliste: Demnach kamen in den Lagern Karlshagen I und II zwischen Mai 1943 und September des Folgejahres 232 Menschen um - was für diese vergleichsweise kleinen Lager laut Mühldorfer-Vogt auf eine »Mortalität« verweist, die den großen KZ (nicht: den Vernichtungslagern) gleichkommt. Und insofern den Mythos konterkariert, die Peenemünder KZ-Insassen hätten es doch vergleichsweise gut gehabt. Hunderte Opfer fehl geleiteter Luftangriffe sind dabei nicht mitgerechnet - und auch nicht die, die ab Sommer 1943 in die »Dora«-Anlagen verbracht wurden und dort den grausamsten Bedingungen ausgesetzt waren, die das Lagersystem zu bieten hatte. Mühldorfer-Vogt und seinen Forschern steht noch viel Puzzlearbeit bevor.

Zwei Formen des Erinnerns

Was außerdem ansteht, ist ein Einstieg in die Rezeptionsgeschichte, also die Geschichte des Redens über Peenemünde. Mühldorfer-Vogt denkt dabei an eine Analyse der Memoirenliteratur der Leute um Wernher von Braun, die im Westen ab den 1960ern das Bild von der damals so fernen Raketenfabrikation an der Ostsee prägten. Nicht weit von seinem Museum gäbe es aber auch einen anderen, durchaus handfesten Einstieg in eine solche Geschichte des Erinnerns: »Also seid ihr verschwunden / aber nicht vergessen / niedergeknüppelt, aber nicht widerlegt / mit allen unvergessen / Weiterkämpfenden«, steht in der Karlshagener Gedenkstätte auf einer verwitterten Steintafel links des Rößler-Mosaiks. Rechts davon befindet sich eine offenbar nach der Wende angebrachte Tafel. Sie ist in einem weit besseren Zustand. Dort steht: »Den Opfern des zweiten Weltkrieges aus Karlshagen und Trassenheide.«

Die sich so krass unterscheidende Erinnerungshaltung, die aus diesen beiden Tafeln spricht, trägt schon viel zur Erklärung der merkwürdigen Wiederauferstehung eines »Mythos Peenemünde« bei, gegen den die Fachleute ankämpfen müssen. Es geht hierbei um die Kollateralschäden der historiographischen Totalentsorgung der DDR, die in den 1990er Jahren in Deutschland zu einer rasanten Re-Nationalisierung der Geschichtsdiskurse führte. Das allerdings wurde nicht thematisiert im Hotel Seeklause zu Trassenheide.

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