Kein Naturereignis

Zur Demografiepolitik der Bundesregierung - ein fachlicher Kommentar

  • Wolfgang Weiß
  • Lesedauer: 7 Min.
Mit großem Pomp zelebrierte die Bundesregierung vor zwei Wochen ihren ersten Demografiegipfel. Der Bundesinnenminister hatte geladen, die Kanzlerin und acht Bundesministerien sowie Verbände, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine und Kommunen waren dem Ruf gefolgt. Schon in der Eröffnungsrede verriet Innenminister Friedrich, worum es der Bundesregierung vor allem geht: um die Veränderungsbereitschaft der Bürger. Der demografische Wandel sei ein Konglomerat vielfältiger Probleme, deren Bewältigung nur ein finanzielles Thema ist, was unweigerlich sozialen Verzicht zur Folge hat, ohne Frage, wer die Opfer zu bringen hat. In sechs definierten Handlungsfeldern und neun Arbeitsgruppen blieb die Debatte bei der Suche nach der Verantwortung des Einzelnen und der Familie stecken. Unser Autor verweist darauf, dass alle jetzt alarmistisch interpretierten Probleme in der Wissenschaft seit Jahrzehnten bekannt sind, doch die Politik habe das bisher zumeist ignoriert. Und jetzt zöge sie die falschen Schlussfolgerungen.

Ein Gipfel soll Aktivität demonstrieren. So der erste Demografiegipfel der Bundesregierung, zu dem die Kanzlerin diesen Monat geladen hatte. Es wurden viele richtige Fragen gestellt, mutig die »Herausforderungen der alternden Gesellschaft« angenommen. In Wahrheit tritt die Debatte auf der Stelle. So manche »Herausforderung« hat mit Demografie rein gar nichts zu tun. So zählte die Bundesregierung schon in ihrer im April verkündeten Demografiestrategie schwerwiegende Defizite auf, etwa im Gesundheitswesen, bei der Pflege und überhaupt bei der Bewältigung vieler Veränderungen der Gesellschaft angesichts der enormen Zunahme des Anteils älterer Menschen. Sie müssten aber auch ohne den demografischen Wandel behoben werden, sie bekommen durch ihn nur eine neue Qualität.

Völlig zu Recht sagt die Kanzlerin zwar: »Wenn wir heute nicht anfangen zu handeln, werden wir es immer schwerer haben, auf die Veränderungen zu reagieren.« Doch auch hier gilt, was Dennis Meadows vor der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Bundestages im Herbst 2011 zum Klimawandel feststellte: »Genau genommen ist es bereits zu spät!«

Das Zauberwort der Demografiestrategie ist »Anpassung«. Es wurde vor Jahren vor allem im Osten Deutschlands kultiviert, als die Infrastruktur an die rückläufige Einwohnerzahl »angepasst« wurde - wir erinnern uns an die Schließung knapp der Hälfte aller Schulen in den 1990er Jahren.

Mit Anpassung meint die Bundesregierung »Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen«. Es ist ein für sie typischer Euphemismus, der überdecken soll, dass es nur um die Rentabilität öffentlicher Kassen geht, vor allem der chronisch unterfinanzierten Städte und Gemeinden. Deren finanzielle Misere wurde aber bisher nicht durch den demografischen Wandel bestimmt, sondern durch die Verschiebung von Sozialstaatsleistungen in die freiwilligen Aufgaben der Kommunen.

Rein rechnerisch lässt sich der demografische Wandel relativ einfach beschreiben: Die Anzahl der Geburten sank vor 40 Jahren auf rund ein Drittel unter das Bestandserhaltungsniveau. In der zweiten Generation heißt das: die Anzahl der Enkel ist nur noch rund halb so groß wie die Generation der Großeltern. Unter diesen Bedingungen ist es fast egal, dass die Lebenserwartung seit 160 Jahren jährlich um rund drei Monate steigt - das verstärkt lediglich die Zunahme des Anteils der älteren Bevölkerung gegenüber der jüngeren. Diese Entwicklung führt zu Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und wird sich in Kürze auch ohne eine weitere Verringerung der Anzahl der Geburten pro Frau von selbst verstärken, denn Mädchen, die nicht geboren wurden, werden auch keine Kinder bekommen.

Kinder spielen in der Demografiestrategie der Bundesregierung übrigens kaum eine Rolle, und wenn, dann fast ausschließlich mit Blick auf die Verfügbarkeit von Müttern für den Arbeitsmarkt. So schreibt sie: »Bei einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wollen rund 1,2 Millionen nicht erwerbstätige Mütter wieder in das Erwerbsleben eintreten. Damit würde auch ein zentraler Beitrag zur Fachkräftesicherung geleistet.« Dass berufstätige Frauen bei einer besseren Vereinbarkeit von Mutterschaft und Arbeit zurückgestellte Kinderwünsche realisieren könnten, was einen positiven Effekt auf die Geburtenbilanz auslösen würde, wird nicht einmal am Rande diskutiert.

Solche Fragen werden ebenso ausgespart, wie seit 40 Jahren fast alle Vorgänger im Amt keine Antwort auf die Frage suchten, warum vor allem in Westdeutschland schon vor 35 Jahren rund jede fünfte und heute bereits fast jede dritte Frau kinderlos bleibt bzw. die Umsetzung des eigenen Kinderwunsches bis zum Ablauf der biologischen Uhr verschiebt. Ausgespart bleiben also auch Fragen nach:

● der Lebenssituation junger Frauen in jenem Lebensabschnitt, in dem Schwangerschaften aus biologischen und medizinischen Gründen am günstigsten sind,

● der sozialen Lage von Eltern und jenen, die ihre Kinderwünsche aufschieben,

● der durchgängigen Benachteiligung von Eltern gegenüber Kinderlosen. Nein, kinderfeindlich ist diese Gesellschaft nicht; sie ist elternfeindlich. Fast alle Gesetze sowie die Regeln in der Wirtschaft bewirken eine Bevorzugung von Kinderlosen.

● der rechtsstaatlich organisierten Umverteilung von Einkommen und Vermögen von Eltern und deren Kindern an zeitlebens Kinderlose!

Völlig richtig problematisiert die Bundesregierung die Verringerung des Anteils der Beschäftigten im Haupterwerbsalter. Es geht dabei nicht um die Frage, ob dadurch weniger produziert werden würde. Bisher wurden alle Defizite auf dem Arbeitsmarkt durch eine höhere Arbeitsproduktivität überkompensiert. Ginge es nur darum, würde bei uns auch in Zukunft niemand hungern oder frieren müssen. Es können aber nicht alle Probleme der künftigen Altersgliederung der Bevölkerung wie bisher gelöst werden:

Erstens sind Betreuung und Pflege von realen Menschen zu erbringen. Diese Arbeit ist kaum technisch aufzufangen. Bei wachsendem Bedarf sind unter anderem Veränderungen in der Berufslandschaft nötig. Ein besonderes Problem dabei ist die noch immer vorhandene geschlechtsdifferenzierte Arbeitswelt.

Zweitens stößt das umlagefinanzierte Rentensystem an seine Grenzen, wenn die Umlage nicht neu geordnet wird. Die vollständige Einbeziehung wirklich aller Teile der Bevölkerung in den Beitragspool ist schon lange überfällig. Das schließt die Überwindung des Beamtentums und des Pensionswesens ein.

Im Kanzleramt saßen die Demografen am 24. April am Katzentisch. Die Arbeitsgruppen haben sich lediglich mit dem Begriff Demografie »gelabelt«. Es ging um »Voraussetzungen für ein längeres Arbeitsleben«, also um die Organisation der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, sowie um die »Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter«. Beides ist wichtig, aber es sind Gestaltungsaufgaben, die nur wenig mit dem demografischen Wandel zu tun haben. Die arbeitsweltlichen Themen dienen sogar lediglich der Umsetzung von Unternehmerinteressen.

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt bekommen durch den demografischen Wandel bestenfalls eine zusätzliche Komponente. Zudem ist es bedenklich, wenn zukünftige demografische Erscheinungen für heute als Drohkulisse aufgebaut werden, obwohl es nicht einmal die Hoffnung gibt, dass die aktuellen Probleme gelöst und vorhandene Reserven erschlossen werden. Der viel beschriebene Fachkräftemangel ist doch eher ein strukturelles Problem. Es sind nur wenige Berufsfelder wirklich davon betroffen, wogegen in anderen Bereichen Akademiker und Facharbeiter sowie die »Generation 55+« auf Halde liegen.

Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist die Demografiestrategie nur die Ankündigung solcher Maßnahmen, wie der von Minister Rösler im Juni vorgestellten Informations- und Werbeoffensive, einem Ruf nach ausländischen Arbeitskräften, also einer Form des demografischen Kolonialismus. Die Sicherung des Fachkräftebedarfs ist zudem eine Mogelpackung. In Wirklichkeit geht es um die Absenkung des Lohnniveaus in Deutschland, denn als einzige Bedingung für Zuzug aus dem Ausland wird eine bestimmte minimale Lohnhöhe formuliert, nicht aber die zuvor mit Unternehmern und Gewerkschaften verabredete Punkteliste mit kulturellen und sozialen Parametern, der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse und der Unterstützung von Sprachkompetenz.

Ein besonderes Defizit der Demografiestrategie ist die schwache Reflexion regionaler Unterschiede. Seit Jahrzehnten gibt es eine ungebremste Abwanderung aus wirtschaftlich benachteiligten Räumen. Dass die Schrumpfung durch Abwanderung in Ostdeutschland besonders hoch ist, verwundert darum kaum. Sie wird aber durch ein strukturelles Problem verschärft: Die Wanderungen finden nicht nur schlechthin stark selektiv statt, sondern die Parameter Alter, Geschlecht und Qualifikation wirken eng zusammen.

Weltweit einmalig dominieren bei der Abwanderung aus dem Osten gut ausgebildete junge Frauen. Sie leben den Anspruch ihrer Mütter und Großmütter aus: Die in der DDR relativ weit fortgeschrittene arbeitsweltliche Emanzipation. Die komplementären Merkmale der Wandernden verdichten sich in der sesshaften Bevölkerung. Das Durchschnittsalter in den ostdeutschen Abwanderungsgebieten steigt besonders schnell, die Altersgruppe 18 bis 35 Jahre verliert besonders viele Frauen, so dass ein Männerüberschuss von bis zu 25 Prozent entstand. Zudem leiden viele Abwanderungsgebiete schon an einem signifikanten Defizit an Führungskräften.

Der demografische Wandel wird wie ein Naturereignis benutzt, um den weiteren Abbau des Sozialstaates und die Umverteilung von unten nach oben leichter zu legitimieren. Damit ist die »Demografiepolitik« der Bundesregierung nichts anderes als moderne Bevölkerungspolitik und angewandter Malthusianismus. Ihr demografischer Gehalt reduziert sich auf wenige vulgär-demografische Parameter. Darin gibt es immer nur zu viele, zu wenige oder die falschen Menschen.

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