Ein bisschen Erträglichkeit

Martin Walsers Reisetagebücher

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Martin Walser ist ein vergesslicher Mensch. Nicht - wie das gern zum Aufheizen polemisch-öffentlicher Disputräume behauptet wird - im geschichtsblickenden Sinne, nicht in Bezug also auf die Dauerwirkungen deutscher Schande, nein, ganz profan begriffen: Jüngst ließ er im Zug von Innsbruck nach Friedrichshafen sein Tagebuch liegen. Es war in rotes Leinen gebunden, ohne Namens- und Adressenvermerk, denn »ich hatte ja nicht die Absicht, es zu verlieren«.

Das Buch enthält Werkentwürfe für Romane und Essays sowie die Reisenotizen eines ganzen Jahres. Der 85-Jährige wartete zwei Wochen lang vergeblich auf die Glücksmeldung aus einem Fundbüro der Deutschen Bahn (»Verlustgruppe Bücher, Bilder, Kunstgegenstände«) und wandte sich dann hilfesuchend an die Öffentlichkeit. 3000 Euro winken nun dem ehrlichen Finder - gestiftet vom Rowohlt Verlag Reinbek, der das Werk Walsers herausgibt, seit einigen Jahren auch dessen Tagebücher.

Offenbar hat Walser nicht so viel Glück mit dem Fundbüro wie Rabindranath Tagore. Der vergaß 1912 einen Kleinkoffer mit dem Gedichte-Manuskript »Gitanjali« in einer Londoner U-Bahn-Station; er hatte das Behältnis auf eine Bank gestellt, spazierte technik-ergriffen durch den modernen Großstadtuntergrund und dachte vor lauter Faszination nicht mehr an seine Poesie. Das Manuskript wurde aber redlich abgegeben, ein Jahr später erhielt Tagore dafür den Literaturnobelpreis.

T.E. Lawrence ließ 1919 in einer Bahnhofskneipe das einzige Manuskript von »Die sieben Säulen der Weisheit« liegen. Er fand die 1000 Seiten nie wieder und musste alles neu schreiben. Und der Erzähler V.S. Naipaul hinterlegte all seine Texte in einem Londoner Depot, dort verwechselte man sie mit den Aufzeichnungen einer südamerikanischen Firma und verbrannte sie. Heimito von Doderer wiederum verlor seinen Roman »Katharina« auf der Rückkehr von seiner sibirischen Gefangenschaft. Bei Alfred Polgar war die Sekretärin die Täterin. Sie versaubeutelte einen Textberg, an dem Polgar über drei Jahre gearbeitet hatte.

Martin Walser war offenbar schon immer vergesslich. Im Buch »Meine Lebensreisen« geschieht es auf Seite 116, es ist der 24. März 1977: »Den Fotoapparat in Tokio vergessen. Er ist nicht mehr aufzufinden.« Zum Glück ist der Autor kein Fotograf. So, wie er im Tagebuch nicht Realitäten summiert und Ab-Bilder reiht. Walser wird niemals sprachlich ohne ein dichtendes Denken. »Ich blute wieder einmal durch die Gegend.« - »Nicht auftauchen in einer Stadt. Gar nicht erst auftauchen. Den Bestand des Vernichtbaren gar nicht erst vermehren.« - »Ich tu nichts freiwillig, fast nichts. Und das spürt die Umwelt, sie stellt die Weichen.« - »Die Amerikaner sind Apostel, die ihr Evangelium vergessen haben.« - »Lass mich beten um das Quäntchen Kraft, das nötig ist, um der Welt für zehn Minuten zu entkommen.«

Sechzehn Reisen zwischen 1952 und 1981. Kongresse, Stipendiatsaufenthalte, Dreharbeiten, Schriftstelleraustausch, private und Ehreneinladungen. Europa, Asien, Amerika. Aufenthalte zwischen Trinidad und Tbilissi, zwischen den USA und der DDR. Anfangs ist Walser ein junger Fernsehredakteur, am Ende reist ein europäischer Literat. Und er reist auch immer als Literat. Nicht hinsichtlich einer besonderen Achtgabe auf Stil, sondern hinsichtlich Dichters Versuch, sich schreibend ähnlich, also ein Mensch zu werden.

Wer reist, gerät in Geselligkeit, wohl oder übel, übel und wohl. Aber Walser bleibt eben Dichter, das heißt: Er gesteht sich seine Einsamkeit ein, dies andauernde Missverhältnis zwischen Sein und Seinssucht, also: Sehnsucht. Dies Missverhältnis ist die schöne, schaurige Grundlage dafür, die Wirklichkeit aller Kulissen, Dekorationen, Vermummungen zu entkleiden. Der Erzähler, sich selber folgend, begibt sich in die natürlich verzweifelte Lage all der anderen Menschen. Eine Verzweiflung, die viele farbige Masken hat.

Walser leugnet auch in diesen Reisetagebüchern nicht seine Auffassung von der Sinnlosigkeit aller politischen, ideologischen, gesellschaftlichen Aufrechterhaltungsbetriebe, aber er bekräftigt immer und überall die Schönheit einer lebensrettenden Praxis: das Schwere so nehmen, als sei es leicht; verlässlich bleiben in den Lügen eines Friedens, den wir Kultur nennen und in dem fürs stabile Miteinander ein Verschweigen des Unerträglichen mitunter weit menschlicher sein kann als ein rücksichtsloses Offenlegen. Walser: geradezu wild in seinem Programm der Milde.

Ja, ein Verschönerer ist er, aber wer ist das nicht? »Alles muss so dargestellt werden, dass ich es leichter ertragen kann als in Wirklichkeit.« Wir könnten doch gar nicht aufstehen, täglich, wären wir nicht bereit zum Verschönern: des Privaten, des Beruflichen, des sehr Persönlichen, das uns im Spiegel entgegenstarrt. Nur im Gesellschaftskritischen, da kommt Mut auf: ist ja alles schön weit weg, und ist alles so schön abstrakt. »Ich versuche, so gut es geht, den Bedeutungen auszuweichen, die aus allem Begegnenden auf mich zukommen. Oder, genauer: Ich weiche nicht aus, sondern biege die Bedeutungen so, dass sie für mich ein bisschen erträglicher werden.« Das ist sinnreiches Leben: nicht ständig im freiwilligen Solde des Höheren stehen müssen, des geschichtlich Wahren, des Weltverändernden, des fortwährenden Einsatzes für das ... ja: was eigentlich?

Wenn er im Flugzeugsessel sitzt, blickt er, da die hochhackigen Stewardessen gerade servieren, fantasierend auf deren »Weichstes«, das er auf Augenhöhe vor sich hat. In der Sowjetunion besucht er Lew Ginsburg, »der sagt: Peter Weiss, mein Freund und Gegner. Das Trotzki-Stück, das geht nicht, er kann nicht in Stockholm sitzen, eine gute Zigarre rauchen am Fernsehschirm und dann uns Russen sagen, wie man Revolution macht.«

Prediger aller Religionen und Ideologien, sämtliche Anbeter: Lest Walsers Gedanken über Gott, Seiten 44 bis 46! »Ich wage nicht an Gott zu denken, weil ich mich dann ändern müsste.« Es bedarf eines tief forschenden Lebens, um behaupten zu dürfen, diesen Satz verinnerlicht zu haben, ihm folgen zu wollen, ihm folgen zu können. Gott, hier genommen als das große, entscheidende Ethik-Wort außerhalb aller Kirchen.

Eintragung vom 12. September 1973: »CBS News. Allende tot. Hätten die besorgten Journalisten sich doch, statt um Solschenizyn, um Allende gedrängt.« Das ist so eine Stelle, eine nur von mehreren, da möchte man allen Walser-Vorurteilsbütteln, die so eifrig, geifrig ihre Suada auskippen, nur zurufen: Warum tut ihr so Vieles, nur eines nicht: lesen!? Und solltet ihr lesen, noch eine Zusatzbitte: genau lesen! - das Vorurteil hielte dann womöglich nicht mehr so ohne Weiteres stand.

Im Jahre 1981 fährt Walser zur Leipziger Buchmesse. Treffliche Charakterisierung der DDR: »Die andere Verführung - eine waren-lose Welt.« Er schreibt, hier sei noch beruhigend viel Land. »Wenn man längere Zeit in übervölkerten Gegenden lebt, wird man schwermütig. Eine Art Sauerstoffmangel der Seele vielleicht. Man braucht menschenleere Räume, sonst glaubt man nicht mehr, dass man noch lange existieren kann.« Wie fährt er? »Süchtig nach Bestätigung meiner Meinungen über die DDR und genauso süchtig nach Korrekturen.« (So hätte man sich selber gewünscht, mitten im Charakterfraß der Apologetik.)

Walsers DDR-Verleger Hans Marquardt: »Als er letztes Jahr die Grenze hinter sich hatte, sprang er sofort aus dem Auto und kaufte sich zuerst das Neue Deutschland. So groß war sein Bedürfnis nach einer Zeitung, die man lesen konnte.« Besuch bei Werner Tübke: »Künstlertum ist nicht durch Unordnung auszudrücken, sagt er … Er spielt Skat … Er hat Wahnsinn im Gesicht … Die goldene Brille ist echt Gold … Die Historie ist sein Schutz gegen die hässliche Gegenwart.« Über Sarah Kirsch: »Wenn sie über 50 ist, wirkt das nur noch komisch, diese Mädchen-Liebes-Klage«. In Weimar eine Hermann-Kant-Rede: »der übliche Eiertanz«. Frühstück mit dem Schriftsteller Gert Neumann, der sagt: »Das Furchtbarste wäre Hoffnung. Dann könnte er nicht mehr schreiben. Das hier ist ein Sumpf. Wenn man sich einlässt, das wirkt sich aus, das merkt man einem an. Das wirkt sich auf die Sätze aus. Er sei rein geblieben. Er sei Facharbeiter … sie wohnen elend, das ist auch poetisch, bringt einen hoch, wenn man nur Dreck sieht«.

Diese Reisetagebücher sind ein Heimatversuch. Ein Kleinbürger braucht Heimat, und die Großen unter den Kleinbürgern wissen, dass es Heimat nur um den Preis von Verlustanzeigen gibt. Die Verlustanzeigen des Martin Walser sind große Literatur, noch in beiläufigster Notiz. Auf die Deutsche Bahn und ihre Fahrgäste freilich haben solche Anzeigen offenbar wenig Wirkung. Obwohl auf einem ICE-Fahrplan zu lesen ist: »Wir sind nicht Bahn, wir sind Kultur.«

Martin Walser: Meine Lebensreisen. Vorwort von Thomas Schmid. Corso/Groothuis, Lohfert Verlag Hamburg. 152 S., geb., 24,90 €.

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