Werbung

Die EU

Leseprobe

  • Lesedauer: 2 Min.

Die EU hat keine Geschichte, wie sie Nationalstaaten besitzen. Zwar bemüht man sich, eine Erzählung zu konstruieren, nach der die Entstehung der Union wie eine logische Schlussfolgerung der europäischen Geschichte erscheint. Wie bei der Geschichtsschreibung eines Nationalstaates werden auch hier einzelne Ereignisse, bedeutende Persönlichkeiten und bestimmte Denk- und Handlungsweisen zu einem neuen Mythos, eben zu einem europäischen, verdichtet ... Die mystische Suche nach der »verlorenen Einheit Europas« ist im doppelten Sinne vergeblich und unsinnig, denn ein ursprüngliches Europa als politische und kulturelle Einheit hat es zum einen nie gegeben, und zugleich wird die wirklich einigende Tat Europas übersehen. Sie besteht in der geschichtlichen Tatsache, dass sich auf diesem Kontinent - unter Ausbeutung der restlichen Welt - die kapitalistische Produktionsweise herausgebildet hat, die die Existenz der gesamten Menschheit bis heute prägt ...

Es waren die Dichter und Politiker der Romantik, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine irreale wie irrationale europäische Identität erfanden ... Von ihnen stammt der Begriff des »christlichen Erbes Europas«, sie sprachen vom »Abendland« und sie beschworen die bis heute wirksame Ausgrenzung der islamischen Welt, und hier vor allem der Türkei, als einer nichteuropäischen Kultur ...

Das Europa der Romantiker blieb zwar ideologisch bedeutsam, politisch aber machtlos, da rückwärtsgewandt und auf das längst vergangene Mittelalter fixiert. Das 19. Jahrhundert hingegen wurde in Europa zum Zeitalter des Liberalismus, des Freihandels, der Nationen und Nationalstaaten. Erst als mit dem Monopolisierungsprozess der kapitalistischen Ökonomien im Übergang zum 20. Jahrhundert Liberalismus und Freihandel lästig wurden, erinnerte man sich wieder der Europa-Idee. Den imperialistisch gewordenen großen Staaten des Kontinents dient sie seither zur Legitimation ihrer Überlegenheit gegenüber kleineren Ländern. Vor allem in Deutschland wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer neue Europakonzepte entwickelt, die alle nur dem einen Zweck dienten, die imperialistische Expansion des Deutschen Reiches zu rechtfertigen.

Aus Andreas Wehr »Die Europäische Union« (PapyRossa, 134 S., br., 9,90 €).

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.