Argusaugen richten sich auf Kiew

Erwartet wird ein knappes Ergebnis

  • Lesedauer: 5 Min.
Die Parlamentswahlen am Sonntag in der Ukraine sind nicht nur innenpolitisch bedeutsam. Sie rücken die Entwicklung des Landes auch wieder stärker ins Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit, denn sie sollen Aufschluss über den Stand der Demokratieentwicklung und die Hauptrichtung der künftigen Innen- und Außenpolitik geben.

Zwar wird überall - in der Ukraine wie im Ausland - mit einem knappen Ausgang der Wahlen am Sonntag gerechnet, doch nach allen Prognosen dürfte die regierende Partei der Regionen (PdR) erneut als stärkste Kraft daraus hervorgehen. Sie hat sich über ihre Hochburgen im Osten und Süden hinaus inzwischen zu einer gesamtukrainischen Partei entwickelt. Ungeachtet dessen hat die PdR seit dem Amtsantritt des Präsidenten Viktor Janukowitschs im Februar 2010 in der Wählergunst deutlich verloren. Die Enttäuschung über die Regierungspolitik seither, über das Ausbleiben einer spürbaren Verbesserung der Wirtschaftslage und der sozialen Situation des Großteils der Bevölkerung ist groß. Nach jüngsten Angaben des UNO-Programms für Entwicklung leiden etwa 16 Prozent der Bevölkerung Hunger, weil sie sich finanziell weniger als 2100 Kilokalorien täglich leisten können.

Die PdR versucht mit einem Stabilisierungsprogramm für die Wirtschaft den Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise entgegenzusteuern, auch wurden Renten und Sozialleistungen geringfügig erhöht. Doch schon drohen der Bevölkerung weitere Belastungen, wenn die Regierung angesichts neuer Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds gezwungen ist, die Binnenpreise für Energie um etwa 20 Prozent zu erhöhen.

Von der allgemeinen Unzufriedenheit profitieren nicht nur Oppositionsparteien, sondern auch die KP der Ukraine. Sie zählt zwar in der Werchowna Rada zum Regierungslager, trotz teils heftiger Kritik an einzelnen Entscheidungen des Kabinetts unter Mykola Asarow, wurde aber mit ihrem Wahlprogramm zum Auffangbecken für enttäuschte PdR-Wähler. Das »Antikrisenprogramm« der KPU sieht unter anderem eine Stärkung der Staatsbetriebe, höhere Steuern für Oligarchen und Besserverdienende und einen Ausbau der Sozialsysteme vor. Erstmals seit Jahren gelang es den Kommunisten dadurch, ihren Stimmenanteil in Umfragen auf über 10 Prozent zu steigern.

Angesichts der Erfahrungen von den Wahlen 2007 und gedrängt von westlichen Ratgebern, steckten die wichtigsten Oppositionsparteien Dauerstreit, persönliche Machtgier und inhaltliche Differenzen zumindest zeitweilig zurück. Frühzeitig mühte sich vor allem die Timoschenko-Partei »Batkivtschina« (Vaterland), alle Oppositionskräfte zu bündeln - auch um den Führungsanspruch der inhaftierten Julia Timoschenko zu untermauern. Gemeinsam mit der Partei des früheren Parlamentspräsidenten Arseni Jazenjuk - »Front Smin« (Wandel) - bildete »Batkivtschina« eine gemeinsame Wahlplattform, die »Vereinigte Opposition«. Die mittlerweile zur stärksten Oppositionspartei avancierte Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen (UDAR) von Boxweltmeister Vitali Klitschko verweigerte sich diesem Bündnis jedoch. UDAR ist das Sammelbecken der enttäuschten Anhänger des ehemaligen Präsidenten (und Timoschenko-Feindes) Viktor Juschtschenko. Die Allianz nutzt Klitschkos Popularität und erhält starke ideologische und logistische Unterstützung aus dem Westen.

Gemeinsames Ziel der Oppositionsparteien ist es, eine Mehrheit in der Werchowna Rada zu bilden, die Regierung Asarow abzulösen und möglichst rasch vorgezogene Präsidentenwahlen durchzusetzen. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt entscheidend davon ab, wie sich die 225 Direktmandate verteilen. Allgemein wird damit gerechnet, dass die Mehrzahl dieser Wahlkreismandate an Kandidaten oder Sympathisanten der PdR entfällt, die sich auf diese Weise ihre Parlamentsmehrheit sichern kann. Für die Opposition ist die Wahlrechtsänderung bereits »Teil der Wahlmanipulation«. Klitschko erklärte laut Interfax: »Wichtigste Besonderheit der Wahlkampagne sind die ›harten Ressourcen‹, über die die Administration verfügt - Bestechung statt Überzeugung der Wähler.« Schon während der Bildung der Wahlkommissionen seien die Bedingungen für mögliche Fälschungen geschaffen worden.

Im Westen gelten diese Wahlen als Test für die Demokratiefähigkeit der Regierung. Nur wenn die Abstimmung nach westlicher Einschätzung »fair und frei« verläuft, sollen die politischen Blockaden für die Zusammenarbeit mit Janukowitsch fallen. Damit würde der Weg für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen EU-Ukraine und für neue Kredite frei. Die Maßstäbe wurden bewusst sehr hoch gesetzt - Rechtsstaatlichkeit, Fortsetzung der Reformen, Aufhebung der Gerichtsurteile gegen Oppositionspolitiker, Achtung der Menschenrechte ... Es bleibt also reichlich Spielraum, um - je nach Ausgang - den »fairen und freien« Charakter der Wahlen anzuzweifeln. Beim erwarteten knappen Sieg des Regierungslagers mit Stimmverlusten für die PdR dürfte man sich in Brüssel wohl für weitere Verzögerungen und neue Bedingungen entscheiden. Darauf deuten auch Erklärungen der Botschafter Deutschlands, Frankreichs und Polens bei einer Konferenz in Kiew hin: Selbst die Anerkennung der Wahlergebnisse durch die internationale Gemeinschaft bedeute nur, dass »der Dialog zwischen Brüssel und Kiew« wieder aufgenommen werde, hieß es da. Eine hinreichende Voraussetzung für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens könnten die Parlamentswahlen alleine nicht schaffen.

Auch Russland knüpft seine Erwartungen an die Wahlen im Nachbarland. In Moskau hofft man - nach einer Bestätigung des Kurses der Janukowitsch-Führung durch die Wähler - auf zügige Schritte zur vertraglichen Einbindung der Ukraine in die Zollunion von Russland, Belarus und Kasachstan und die Bereitschaft zur Mitwirkung an einer Euroasiatischen Union. Ein Weiteres Zögern Kiews würde zur Belastung der russisch-ukrainischen Beziehungen führen und eine einvernehmliche Neuregelung von Bedingungen und Preisen für russische Gaslieferungen ausschließen.

Fraglich bleibt, ob sich die ukrainische Führung diesem Druck beugen wird. Eher ist zu erwarten, dass sie versuchen wird (auch unter Hinweis auf eine starke Opposition), keine definitiven Entscheidungen zu treffen. Ihr Hauptziel ist es, den Weg für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU frei zu machen und auf dieser Basis nach Kompromissen für eine Zusammenarbeit mit der Zollunion zu suchen.


Umfrage 2012

Partei / %

Partei der Regionen 23,3
»Vereinigte Opposition« 15,1
UDAR (Klitschko) 16,0
KP der Ukraine 10,1
Vereinigung »Swoboda« 5,1

Wahlumfrage des Kiewer Instituts für Soziologie Ende September (Quelle: Interfax Kiew). Durch Änderung des Wahlgesetzes sind Ergebnisse und Prognosen nur bedingt vergleichbar.

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