Nicht besser, sondern anders sein

Warum die menschliche Individualität eine der wichtigsten Ressourcen unserer Gesellschaft ist

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Dass Carl Friedrich Gauß (1777-1855) einer der größten Mathematiker der Geschichte werden konnte, war maßgeblich dem Zufall geschuldet. Denn der Sohn einer ehemaligen Dienstmagd und eines Maurers wäre wohl kaum über die Volksschule hinausgekommen, hätte nicht ein Lehrer dafür gesorgt, dass der mathematisch begabte Junge das Gymnasium besuchen und somit später - dank eines Stipendiums des Herzogs von Braunschweig - an der Universität Göttingen studieren konnte.

Gauß hatte zweifellos Glück. Für die meisten anderen Kinder, die aus ähnlichen sozialen Verhältnissen stammten, war dagegen eine höhere Bildung unerreichbar. Auf diese Weise blieben viele Begabungen und Talente unentdeckt und gingen der Menschheit unwiederbringlich verloren. Zwar gibt es in Deutschland längst keine Volksschulen mehr und auch keine Herzöge. Was es aber noch immer gibt, ist eine bedrückende soziale Ungleichheit, die dazu führt, dass Kinder aus benachteiligten Schichten auch in ihren Bildungschancen benachteiligt sind.

Dabei kann es sich eine Gesellschaft wie die unsrige eigentlich gar nicht leisten, auf die Fähigkeiten und Talente eines Großteils ihrer Mitglieder zu verzichten. Denn sie schmälert damit nach Ansicht vieler Ökonomen auf Dauer ihre Wettbewerbsfähigkeit. Außerdem setze sie fahrlässig ihre Zukunft aufs Spiel, meint der Wiener Biologe Markus Hengstschläger, der in seinem Buch »Die Durchschnittsfalle« das Problem des »modernen Bildungsnotstands« aus einer recht ungewöhnlichen Perspektive beleuchtet - aus der Perspektive des evolutionären Denkens.

Zur Begründung verweist Hengstschläger auf eine vermeintlich banale Tatsache: Da niemand die Herausforderungen kennt, die uns in Zukunft erwarten, kann heute niemand sagen, welche Fähigkeiten und Talente wir zu deren Bewältigung einmal benötigen werden. Das ist im Grunde auch das Kernproblem der biologischen Evolution, die bekanntlich in einer Umwelt stattfindet, die sich ebenfalls oft unvorhersehbar verändert. Ein bewährtes Mittel, um dem zu begegnen, ist die Sexualität, die für eine Durchmischung der individuellen Erbanlagen und damit für genetisch variable Lebewesen sorgt. Die Evolution leiste sich Individualität, betont Hengstschläger, um bei einer überraschenden Änderung der Umwelt über möglichst viele Varianten zu verfügen, die das Überleben der jeweiligen Art sichern. Auf diese Weise ist übrigens auch der Mensch entstanden, der sich heute allerdings anschickt, die Ressourcen an Individualität aus ideologischem Starrsinn zunehmend zu vergeuden.

Das zeigt sich deutlich an der Struktur unseres Schulsystems, welches auf der Voraussetzung beruht, dass man schon bei Zehnjährigen feststellen könne, ob sie für eine höhere, sprich akademische Bildung geeignet seien oder nicht. Hengstschläger hält dieses Modell im Ansatz für verfehlt, da es eine wichtige Erfahrung unberücksichtigt lässt: Nicht alle Menschen entfalten ihre Fähigkeiten bereits in den ersten Lebens- oder Schuljahren, sondern brauchen dafür mehr Zeit als der »Durchschnitt«. Denken wir nur an Albert Einstein, der zwar kein schlechter, dafür aber ein sehr behäbiger und unangepasster Schüler war. Ob er damit nach heutigen Maßstäben eine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten hätte, darf bezweifelt werden. Lang ist auch die Liste berühmter Sitzenbleiber: Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Richard Wagner, Justus von Liebig, Winston Churchill, um nur einige zu nennen. Viel größer dürfte dagegen die Zahl der Menschen mit ähnlichen Begabungen sein, die an ihren negativen Schulerfahrungen dauerhaft zerbrochen sind.

Es wäre deshalb ratsam, Kinder in der Schule nicht schon frühzeitig zu separieren, sondern sie unter gleichen Bedingungen möglichst lange zusammen lernen zu lassen. Nur so haben sozial benachteiligte Kinder überhaupt eine Chance, mit ihren Fähigkeiten auch ihre Individualität zu entfalten, die für ein gesundes Selbstbewusstsein gewöhnlich unverzichtbar ist.

Im Grunde besitze jeder Mensch besondere Fähigkeiten, schreibt Hengstschläger. Denn alle Menschen haben die gleichen rund 20 000 Gene. Dass wir uns dennoch voneinander unterscheiden, dafür sind lediglich 0,1 Prozent unseres Erbguts verantwortlich. In diesen Genombereichen sind gleichsam die Voraussetzungen verschlüsselt, die jemand hat, um etwa als Sportler, Musiker, Wissenschaftler oder Computerspezialist erfolgreich zu sein.

Allerdings sollte man hier zweierlei nicht vergessen. Erstens: Ohne eine anregende soziale Umwelt ist selbst die »beste« Anlage zum Verkümmern verurteilt. Und zweitens: Auch weniger ausgeprägte genetische Leistungsvoraussetzungen können durch besondere körperliche oder geistige Anstrengungen wettgemacht werden. So ist es, um ein Beispiel zu geben, für einen Basketballspieler sicher von Vorteil, genetisch bedingt sehr groß zu sein. Tatsächlich liegt in der nordamerikanischen Profiliga die Durchschnittsgröße der Spieler bei 2,01 Meter. Dennoch gibt es dort immer wieder Spitzenbasketballer, die »nur« zwischen 1,65 und 1,75 Meter groß sind.

Was für den Sport gilt, gilt im Prinzip für alle menschlichen Fähigkeiten: Gene sind dafür zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Oder, wie Hengstschläger es formuliert: »Gene sind nur Bleistift und Papier, die Geschichte (unseres Lebens) schreiben wir selbst.« Wenn auch nicht allein. So gibt es erfahrungsgemäß viele Eltern, die möchten, dass ihre Kinder in der Schule zumindest besser sind als der »Durchschnitt«, weil dies in unserer Gesellschaft automatisch zu besseren Bildungschancen führt.

Hengstschläger hält eine solche Entwicklung für problematisch. Denn wie bereits erwähnt verschwindet hinter dem Durchschnitt der Gruppe häufig ein wesentliches Merkmal des Menschseins: Individualität. Um es konkret zu machen: Ein Kind bringt aus der Schule in einem Fach häufig schlechte, in einem anderen sehr gute Noten mit nach Hause. Was würden die meisten Eltern wohl dazu sagen? Vielleicht dies: »In dem Fach, in dem du sehr gute Noten bekommen hast, brauchst du ab jetzt weniger zu lernen, dafür aber umso mehr in dem Fach mit den schlechten Noten. Und wenn das nicht hilft, bekommst du dort zusätzlich Nachhilfeunterricht.«

Das alles klingt recht vernünftig. Und ist dennoch, wenn man Hengstschläger folgt, keine empfehlenswerte pädagogische Maßnahme. Zwar wird dadurch womöglich erreicht, dass das Kind in seinem Problemfach den Durchschnitt erreicht. Da es jedoch gleichzeitig das Fach, in dem es ausgezeichnete Leistungen erbracht hat, nun vernachlässigt, besteht die Gefahr, dass es dort auf den Durchschnitt absinkt. Was aber wäre die Alternative? Natürlich sollte das Kind in dem Fach mit den schlechteren Noten fortan mehr lernen, meint Hengstschläger: »Gewisse Grundstandards müssen erreicht werden.« Andererseits deuten sehr gute Noten in einem Fach darauf hin, dass das Kind hierfür talentiert ist. Es sollte sich deshalb damit besonders intensiv beschäftigen dürfen, um das mögliche Talent zu entfalten.

Ein Mensch kann bekanntlich nicht auf allen Gebieten hervorragende Leistungen erbringen. Folglich gäbe es eigentlich keinen Grund, darüber zu klagen, dass Kinder auf dem Zeugnis in manchen Fächern auch schlechtere Noten haben. Bedenklich wird die Sache nur, wenn man, wie vielerorts üblich, die individuelle Bildungsfähigkeit an einer Durchschnittsnote glaubt ablesen zu können. Das wäre etwa so, meint Hengstschläger, als würde man Menschen an einem genetischen Mittelwert messen wollen, den es de facto gar nicht gibt (wie übrigens genetisch gesehen auch keine Rassen). Vielmehr lehrt uns gerade die Genetik, dass Anderssein kein Makel, sondern ein existenzieller Vorzug des Menschen ist.

Markus Hengstschläger: Die Durchschnittsfalle. Gene, Talente, Chancen. Ecowin Verlag Salzburg, 185 S., 19,90 €.

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